: Furor teutonicus
„Das Jahr danach“: Wolfgang Pohrts zutiefst deutscher Essay über die ewigjunge deutsche Apokalypse ■ Von Reinhard Mohr
Mal dumpf, apathisch, depressiv; dann wieder gereizt und zänkisch; schließlich aggressiv bis zur Gewalttätigkeit“ — so sind die Deutschen im Jahr „danach“, nach der Wiedervereinigung, wie Wolfgang Pohrt sie sieht. Das heißt, so waren sie schon immer, und so werden sie stets sein, wenn sich, zumal in Krisenzeiten, ihr „Nationalcharakter“ offenbart. Das Affektspektrum bewegt sich dabei zwischen Haß, Haßliebe und Selbsthaß, die Perspektive heißt Wiederholungszwang: Der Drang zu Vernichtung und Selbstvernichtung.
Wolfgang Pohrt ist einer der begabtesten und fleißigsten Essayisten Deutschlands. Mehr als zehn Bücher hat der 47jährige Wahl- Stuttgarter bereits geschrieben, und ein Ende ist nicht in Sicht. Doch mit jedem neuen Band scheint sein Name ein Stück mehr in Vergessenheit zu geraten. Während Generationskollegen wie Lothar Baier, Thomas Schmid und Cora Stephan, zu schweigen von Hans Magnus Enzensberger, längst Teil der offiziösen politischen Kultur der Bundesrepublik geworden sind, hat sich der 68er Pohrt auf den letzten publizistischen Kragenzipfel einer von den Weltläuften nicht angekränkelten radikalen Haltung zurückgezogen: Nur in Hermann L.Gremlizas linksgläubiger Monatspostille konkret darf er Erich Honecker nach Herzenslust zum „ersten politisch Verfolgten des Vierten Reichs“ ernennen und die Machtergreifung der Nazis 1933 mit der friedlichen Revolution von 1989 vergleichen.
So ist es konsequent, daß sein jüngstes Buch überwiegend aus schon gedruckten konkret-Artikeln besteht. Den Mangel an formaler Kohärenz und Aktualität — viele Beiträge sind mehr als ein Jahr alt— macht Pohrt mit einem mehrfachen Overkill an kühner Hermeneutik spielend wieder wett. Zwar folgen die Texte in diesem Band „weder einem Konzept noch entwickeln sie eines“, wie er selbst eingesteht — für die inhaltliche Argumentation aber gilt dies keinesfalls: Sie zieht sich wie eine einzige triefende Blutspur durch das ganze Buch. Es ist der Faschismus und die maßlose Zerstörungswut der „widerlichen“ (Ost-)Deutschen, die historische Kontinuität und Aktualität des Nationalsozialismus, der seit dem 9. November 1989 wieder an Gestalt gewinnt. Wohin Pohrt blickt, worüber er nachdenkt und was immer er formuliert — es sind „die Deutschen“, die für ihn — unentrinnbar zwischen Ohnmachts- und Allmachtsphantasien hin- und hergerissen — immer auf dem Sprung sind, den Völkermord zu wiederholen. Von dieser virtuellen, mal larmoyant wimmernden, mal brutal und massenhaft zuschlagenden deutschen Volksgemeinschaft nimmt Pohrt niemanden aus, nicht die „faschistischen Massen“ in der Ex-DDR, nicht „die Medien“, die Pogrome vorbereiten, nicht die linksintellektuellen Meinungsführer, die immer auf der Seite des „völkischen Erwachens“ stehen („Wenn die taz antijugoslawische Hetzkommentare aus der Feder des Alt-SDS- Apparatschiks Semler druckt, hat die Linke die ihr vorbehaltene Aufgabe der Selbstdiskreditierung erfüllt“) und schon gar nicht die Grün-Alternativen, deren Ökopazifismus zu Beginn der achtziger Jahre dem neuen Faschismus ideologisch erst die Bahn bereitet hat.
An den drei großen Ereignissen der Jahre 1991/1992 exemplifiziert er die ewigjunge deutsche Apokalypse. Er nennt sie „Golfkriegspazifismus“, „Ausländerverfolgung“ und „Serbienfeldzug“. Für die vernichtende Beweisführung bedient er sich seiner persönlichen, offenkundig überquellenden Asservatenkammer, die unzählige Zeitungsausschnitte, vornehmlich aus der FAZ, dem Spiegel, Bild und der geliebten Stuttgarter Zeitung — die Inkarnation der „Gleichförmigkeit der deutschen Presse“ — enthält. Selbst die täglichen „Hauptnachrichtensendungen von RTL plus, ZDF, SAT1 und ARD — in dieser Reihenfolge — waren für den Verfasser Pflicht.“
Wer nun etwa auf die Idee käme, selbst lesen und fernsehen zu können, irrt. Denn Pohrt allein ist der Geheimagent der Sprache und der Bilder; ihn allein können die vertrackten Zeichen wachsender Irrealität nicht auf die falsche Fährte locken wie den gemeinen verblendeten Leser und all die ahnungslosen Zuschauer in der ersten Reihe. Denn nichts ist so, wie es scheint. Alles gehorcht einem verborgenen Gesetz. Es ist das Gesetz von der deutschen Barbarei. Ihre jüngste Entwicklung geht — frei nach Pohrt — etwa so: Die deutsche Einheit war ein unverhofftes Danaergeschenk, das nach kurzer, eher künstlicher Begeisterung den puren Katzenjammer auslöste. Da kam der Golfkrieg gerade recht. In ihm identifizierten sich die Deutschen mit Bruder Saddam und kämpften im pazifistischen Geiste an der Seite des angegriffenen Opfers Irak gegen die westlichen Alliierten. Antisemitismus, Antiamerikanismus und die Erinnerung an die Bombennächte von Dresden, Hamburg und Köln feierten fröhliche Urständ. Nachdem die Amerikaner — wie 1945 — siegreich vom Felde gingen, brach der Selbsthaß der Deutschen desto stärker wieder auf.
Zum naheliegenden Ventil wurde kurz darauf die Jagd auf Ausländer und Asylbewerber: „Die Menschen faschistisch führen und anzuleiten ist überflüssig, es reicht, daß man sie gewähren läßt“, wobei „die Linksintellektuellen, während sie die Rechtsradikalen noch zu kritisieren meinen, faktisch schon deren Propagandisten und Vordenker sind“.
Außenpolitisch verausgabten sich die Deutschen schließlich im „Propagandafeldzug gegen Serbien“, dem sie — wie stets: projektiv — insgeheim vorwarfen, Slowenien auf allzu friedliche Weise in die Unabhängigkeit entlassen zu haben. Denn natürlich war das antiserbische Feindbild die zwanghafte deutsche Erinnerung an das eigene Wüten auf dem Balkan vor 50 Jahren. So war die „Mobilmachung in den Medien die Wiederkehr der Nazi-Propaganda“, die den Krieg in Jugoslawien erst eigentlich hervorbrachte, indem sie „die Bevölkerung Jugoslawiens in den Bandenkrieg zu hetzen“ versprach. Wie vor 50 Jahren wurden die Serben zu Untermenschen gestempelt, austauschbar mit dem Juden, dem Ossi oder dem Iwan. Nach der „faschistischen Konterrevolution im Osten“, dem hysterischen Friedensfaschismus im Golfkrieg und dem faschistischen Terror gegen Ausländer nun also die Heraufkunft eines „Elitefaschismus“, der den Untergang des Kapitalismus durch neue Raubkriege im Osten zu verzögern trachtet.
So viel Faschismus war noch nie. Und weil die Alternative Sozialismus oder Barbarei mehr denn je auf der Tagesordnung steht, wird selbst „Kuba zur ernstesten Gefahr für die USA, wie Europa sich mit der Existenz eines kommunistischen Albaniens nicht abfinden wollte“. Doch noch ist nicht alles verloren, denn „der Sozialismus in Jugoslawien, der damals (1945, R.M.), mit anderthalb Millionen Toten zu bezahlen war, ist heute billiger zu haben, und er könnte, weil der Preis ein geringerer ist, ein besserer Sozialismus sein“.
Angesichts solch trostloser Rabulistik muß sich auch der gutwilligste Rezensent zusammenreißen, um das Druckwerk nicht in die Ecke zu werfen. Daß Wolfgang Pohrt durchaus ein analytischer Kopf ist und ein guter Essayist sein könnte, zeigen einige Passagen im Kapitel über den Golfkrieg, in denen eine Art Psychogramm deutscher Befindlichkeit als ewig verfolgter Unschuld entworfen wird. Vor allem die Interpretation zweier Gespräche vor und während des alliierten Angriffs auf den Irak mit einer knapp 50jährigen Mittelschicht-Frau ist aufschlußreich und stützt, was Wunder, Pohrts Thesen über die Ursachen der deutschen Golfkriegshysterie. Doch auch hier deutet sich schon jene Überspitzung an, die die Argumentation am Ende nicht scharf, sondern plump macht, in der nicht das Skalpell des Analytikers, sondern der Rührmixer des Rechthabers federführend ist. Was Frau M. sagt, trifft gewiß auch für andere zu. Pohrt begibt sich aber selbst um die Aussagekraft dieses einzelnen Gesprächs, indem er ohne jede Einschränkung seine Allgemeingültigkeit behauptet, ja schon voraussetzt.
In seinem hermeneutischen Furor teutonicus übertrifft Pohrt so noch die größte Errungenschaft der 68er: Seine Form des Entlarvens schafft eine am Ende gegen absolut jedes Faktum und jeden Zweifel abgeschottete Voodoo- Logik. Ihre Ingredienzien sind die Küchenpsychologie des Pohrtschen Weltgeists, ein ökonomistischer Vulgärmarxismus und jene handfeste Paranoia, die das Wahnsystem P. erst komplett macht. Man könnte es auch den einsamen Germanozentrismus des Wolfgang Pohrt nennen, eine unheilvolle Fixierung auf „die Deutschen“, eine riesige Projektion eigenen Hasses und Selbsthasses. Was Pohrt den Deutschen vorhält — die besinnungslose „Projektion vergangener eigener Verbrechen in die Gegenwart“ eines fremden Krieges — das genau tut er selbst. Die „typisch deutsche“ Realitätsflucht ist Pohrts Realitätsflucht.
Sein Blick auf den kroatisch- bosnischen Kriegsschauplatz im Jahr 1991 imaginiert immer nur die vorwärtsstürmende deutsche Wehrmacht 1941. Nicht die Deutschen, sondern er selbst, in seiner Stuttgarter Schreibstube hockend, formt die Welt nach seinem Ebenbild. Das „auf Projektion beruhende Wahnbild“ der Deutschen vom serbischen Aggressionskrieg ist sein ganz persönliches Wahngebilde vom deutschen „Serbienfeldzug“ 1992, in dem der „Faschist Tudjman“ ein Dutzend, der Name Milosevic aber kein einziges Mal vorkommt. Und wenn Pohrt Bilder vom wirklichen Krieg betrachtet, dann kommentiert er sie als absichtsvolle Inszenierung: „Das Horrorvideo vom Granateneinschlag in die Menschenmenge sah so harmlos aus wie — Version Nr. 1 — von Mitgliedern des Stadttheaters Sarajevo in Heimarbeit produziert. Viel zu verschwenderisch für den modernen Geschmack war der Requisiteur mit rotem Saft umgegangen, weshalb BILD vollkommen zu Recht von einem ,Blutbad‘ sprach.“
Die von Pohrt wortreich beschriebene politische Isolation Deutschlands ist die Isolation Serbiens — und seine eigene. Der historische Wiederholungszwang der Deutschen ist Pohrts Unvermögen, irgend etwas anderes zu beobachten und zu denken als das Immergleiche. Und die angeblich freudlos-verklemmte Lebensweise der Deutschen ist Pohrts ureigene, fanatisch bierernste Verbiesterung, die noch in der gelungenen Polemik den Abgrund spüren läßt, dem er entgegenfiebert.
Pohrt ist ein deutscher Apokalyptiker, ein außer Rand und Band geratener Utopist, der den Schmerz über den Verlust mit einem hemmungslosen, im strengen Sinne menschenverachtenden Zynismus zu betäuben sucht. Er ist zudem ein deutscher Rassist par excellence, ein manischer Inländerfeind, der dem akuten, komplementären Rassismus der ausländerfeindlichen Gewalttäter von Rostock bis Eisenhüttenstadt nur um das intellektuelle Niveau der Ignoranz voraus ist.
Wolfgang Pohrt: „Das Jahr danach. Ein Bericht über die Vorkriegszeit“. Edition Tiamat, 351 Seiten, 34 DM.
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