Wandteppich mit Testarossa

Thomas Hürlimanns Geschichten aus der Satellitenstadt  ■ Von Irene Schülert

Schon der Titel weckt negative Assoziationen, läßt an einen Alltag denken, in dem Tristesse und Langeweile das Leben ersticken und der Arbeitsrhythmus den Tagesablauf bestimmt. Das Bild zahlloser Satellitenschüsseln an den Häusern taucht auf, die den in ihre Wohnwaben verkrochenen Insassen den einwandfreien Empfang unzähliger Fernsehprogramme garantieren. Längst ist das Fernsehen zum audiovisuellen Fahrzeug geworden, das Bewegung im Stillstand perfekt simuliert. Erfahrungen machen — stellvertretend — nur noch die stereotypen Serienhelden.

Derartige Negativassoziationen sind beabsichtigt. Um so überraschender ist der Blick hinter die trostlosen Fassaden. Mit den Milieus seiner Satellitenstadt vertraut, beschreibt Hürlimann akribisch die psychische Verelendung der Bewohner, doch er tut es ohne bösen, abwertenden Blick, eher freundlich distanziert und mit Liebe zum Detail beziehungsweise für die Schrulligkeiten und Skurrilitäten seiner Figuren. Die Geschichten lesen sich wie ein Bilderbogen zu den sozialpsychologischen Studien der sechziger Jahre, der die Zurichtung des Konsumenten, seine Paralysierung durch Reizüberflutung nebst begeisterter Fluchten in Ersatzbefriedigungen illustriert.

Aber der Autor beläßt es nicht bei solchen, häufig augenzwinkernden, Beschreibungen. Er nimmt sich auch der Alltagssprache seiner Stadtbewohner an, sortiert den Wortmüll des Stammtisches und sticht solange in Sprechblasen, bis sie einen geheimen Sinn preisgeben. Indem Hürlimann Sprache ihrer Alltäglichkeit entkleidet, weckt er das Interesse am gesprochenen Wort seiner nicht eben wortgewaltigen Figuren neu: Entscheidend ist nicht was, sondern wie gesprochen wird.

In der Titelgeschichte gibt sich der Ich-Erzähler selbst als „Verhängnisforscher“ zu erkennen: „Das Wort Verhängnis entstammt früheren Zeiten und kommt aus der Furcht des Kutschers vor dem Durchbrennen des Gespanns. Jagt es dem Abgrund entgegen, reißt es die Kutsche mit — sie ist mit den Pferden verhängt.“ Ausgehend von dieser wortgeschichtlichen Erklärung und der Vermutung, sie habe ihre Erklärungsfunktion nicht eingebüßt, sie könne vielmehr in anderen Gestalten und Formen neu entdeckt werden, macht sich der Erzähler auf die Suche nach Ursachen für die verhängnisvollen Kräfte. Dabei begegnet er dem magenkranken Mietskasernenbesitzer Rindlisbacher, der, ausgerüstet mit Feldstecher und stets begleitet vom Schäferhund Buebeli, täglich durchs Haus „reviert“ — auf der Suche nach Zigarettenstummeln und Kleenextüchern. Am Stammtisch stößt er auf den ewig müden Lüdi, dessen Müdigkeit sogar noch stärker ist als der ebenfalls beträchtliche Durst, so daß er seinen Kumpanen zum Synonym für besonders öde Angelegenheiten wird: Das Wetter, der Feierabend, der lustlose Beischlaf am Wochenende gelten ihnen als „lüdimüde“. Außerdem sind da die ungekrönte Kneipenkönigin Maria-Lisa und der Pizzabäcker Branko, ihr Geliebter, für den Maria-Lisa einen Wandteppich stickt, den statt eines röhrenden Hirsches ein Ferrari Testarossa ziert.

Überhaupt — die Autos. Sie sind ein Schlüssel zum Verhängnis: in einer Geschichte erschießt ein Stammtischgast einen anderen, weil er seinen Schmerz über einen Blechschaden durch seinen Zechkumpan nicht genügend gewürdigt sieht. Dessen tödlicher Fehler: er trinkt ungerührt sein Bier. Nicht die Gesichter und Namen der Autobesitzer sind es, die sich in der Erinnerung des Erzählers einprägen, sondern ihre Zigaretten- und, vor allem, ihre Automarken. Die Besitzer scheiden sich in „Introvertierte“ (VW Golf, VW Polo), denn die Spitze des Autoschlüssels zeigt auf den jeweiligen Eigner. „Hatten sie Kummer auf der Seele? Keine Ahnung. Allerdings habe ich immer wieder registriert, daß VW- (Weh!)Fahrer zur Melancholie neigen...“ Andere sind extrovertiert: „Fiat heißt auf deutsch: es werde. Fiat lux, ruft der Priester in der Osternacht, es werde Licht...“ Der Fiatler „zeigt nach außen, auf die schöne, helle Welt, die er genußforsch erfahren möchte.“

Immer auf der Suche nach dem Verhängnis, erhält der „Forscher“ von einem erfolglosen Kleinkünstler, der mit einem Delphin auftritt, die Lösung: „Sie zappen sich kaputt, sagte der Mann. Sie zappen von Sender zu Sender, von Bild zu Bild ... sie zappen sich zu Tode.“ Die Bilderwelt der Medien ist ein Leit- und Leidmotiv in Hürlimanns Geschichten. Erlebnisarmut und Kommunikationsunfähigkeit gehen bei seinen Figuren so weit, daß in einer Geschichte der Filialleiter eines Supermarktes erst beim obligatorischen Fernsehabend mit seiner Frau aus dem Gerät erfährt, daß die neben ihm sitzende Gattin, im Fernseher von der Moderatorin befragt, nichts mehr für ihn empfindet, nicht einmal mehr Haß. Das Paar, unbemerkt längst getrennt, bekommt die eigene Entfremdung im Fernseher präsentiert — und schaut sie sich an.

Der Ich-Erzähler, der an alldem nichts ändern kann, versucht zumindest, der Satellitenstadt zu entkommen: In der letzten Geschichte besteigt er mit seiner Freundin ein Schiff. Doch es scheint, als habe dieses Schiff, auf dem eine fiebrige Atmosphäre herrscht, ein Geheimnis: Vielleicht ist es ein Seelenverkäufer und dieses seine letzte Reise — der Start also im Grunde ein Begräbnis. Die düstere Prognose eines anderen „Verhängnisforschers“ scheint sich zu erfüllen. Im Passagenwerk schreibt Walter Benjamin: „Daß es ,so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“

Thomas Hürlimann: „Die Satellitenstadt“, Amman Verlag, Zürich 1992, 160 Seiten, 32 DM.