Cabbage, Hogheads, Butterstinker...

...Penner, Säufer, Gelegenheitszuhälter. 2153 Seiten amerikanische Gegenwartsliteratur  ■ Von Stefana Sabin

Der romantischen Verklärung des existentiellen Kämpfers als Sieger, wie sie im neunzehnten Jahrhundert üblich war, stellte die moderne nordamerikanische Literatur im zwanzigsten die psychologisch verfeinerte Figur des gebrochenen Siegers entgegen, des Überlebenden. Ging derSieger aus Auseinandersetzungen geläutert hervor, so haderte der Überlebende unentwegt mit seinem Schicksal und ging Konflikten aus dem Weg; war der Sieger ein Streber, wurde der Überlebende zum Aussteiger; war der Sieger ein Angepaßter, wurde der Überlebende zum sanften Rebellen. Dieser antiheldische Typus aber wurde von einer sozialkritischen und satirischen Literatur seinerseits zum Helden erhoben.

Amerikanische Helden dieser Spezies gibt es in diesem Herbst gleich mehrere auf dem hiesigen Buchmarkt: Suttree in dem Roman „Verlorene“ von Cormac McCarthy, Ginny Cook in „Tausend Morgen“ von Jane Smiley, Solomon Gursky in „Solomon Gursky war hier“ von Mordecai Richler und Hiro in „Der Samurai von Savannah“ von T.Coraghessan Boyle. Sie alle überstehen Schicksalsschläge und soziale Konflikte und stellen ihr psychisches Wohl über die materielle Sicherheit.

Scheißspiel

Geradezu beispielhaft für die Figur des Überlebenden ist der (Anti-) Held von Cormac McCarthy. Suttree ist ein Penner, ein Säufer, ein Gelegenheitszuhälter, aber ein anständiger Kerl, lebensklug und altersweise dazu, bei aller wirtschaftlichen Armut großzügig und bei allem geistigen Reichtum bescheiden. „Das menschliche Elend kennt keine Grenzen, es kann immer noch schlimmer werden, aber Suttree sagte nichts davon.“ Freundschaft ist ihm heilig, und es geht im nie so schlecht, daß er anderen nicht helfen würde. Auf einem Boot auf dem Tennessee (über)lebt er, indem er die Fische, die er ab und zu fängt, auf dem Markt verkauft. „Market Street am Montagmorgen, Knoxville, Tennessee. Im Jahre neunzehnhunderteinundfünfzig. Suttree marschierte mit seinem Fischpaket an verlassenen Lastwagen vorbei, beladen mit Ernteprodukten und Blumen, in der Luft ein ranziger Geruch nach Landhandel, nach Farmererzeugnissen, schon fast ein Hauch von Fäulnis und Verwesung. Parias schmückten den Weg; blinde Sänger, Orgelspieler und Psalmisten mit Mundharmonikas wanderten hin und her. Vorbei an Eisenwarengeschäften, Fleischmärkten und kleinen Tabakläden. Jetzt, in der heißen Mittagszeit, ein strenger Duft nach Essen, wie gärende Maische. Stumme Hausierer, lauernd an ihren Wagenkästen hockend; Blumenfrauen, die mit ihren Hauben wie Gnome mit Mönchskappen wirkten, knorrige Hände im Schürzenschoß, die Unterlippe geschwollen von Kautabak.“

Die elende Seite des Daseins ist Suttrees Heimat: immer wieder sterben die Menschen, dier er liebt, wird er selbst schwer verletzt oder liegt auf den Tod, gerät er in Straßenunruhen oder Naturkatastrophen — und überlebt. Dabei ist sein Lebenswille rein instinktiv, jedenfalls kommt der Roman ohne jeden Psychologismus aus. Und so einfach die Figur Suttrees ist, so überschaubar die Handlung des Romans, in dessen Mittelpunkt sein Elend steht: einige Jahre aus Suttrees Leben. Zwischen der Erzählung in der dritten Person und dem gelegentlichen inneren Monolog Suttrees entsteht kein stilistischer Bruch, weil eine Art ironischer Abgeklärtheit den ganzen Text durchdringt. „Wieso haste mich denn bei dem Scheißspiel da unten mitmachen lassen?“, möchte ein Freund Suttrees Gott fragen können, „ich hab das überhaupt nich auf die Reihe gekriegt.“ Doch Suttree lächelt bloß. „Und was glaubst du, was er daraufhin sagt? Der Lumpensammler spuckte aus und wischte sich den Mund ab. Da weiß er bestimmt keine Antwort drauf, sagte er.“

Geradzu karikaturistisch sind die Namen der Figuren gewählt: Cabbage, Youngblood, Oceanfrog, Hoghead, Worm Hazelwood. Alle gehen nur halbernst mit sich selbst und miteinander um, und immer wieder werden Hochsprache und Slang mimetisch eingesetzt. Die Wucht seiner Metaphern und die Kraft seiner Natursymbolik hat McCarthy schon Vergleich mit Faulkner eingebracht. Auch er siedelt seine Handlung in den Südstaaten an, nur ist McCartys Süden eben nicht die mythisch-mystische Landschaft Faulkners, sondern eine realistische Lebensumwelt, in der er keine Läuterung mehr gibt.

Countrysides

In einer ähnlich entmythisierten Landschaft lebt Ginny Cook in Jane Smileys neuem Roman. Ginny stammt aus einer Farmerfamilie und kennt nichts als das bescheidene Landleben. Als ihr Vater aber auf einem Fest beschließt, die riesige Farm unter seine ältesten Töchter aufzuteilen — und dabei die kleinste enterbt, setzt er einen Familienkonflikt in Gange, der die Beschaulichkeit des Landlebens ins Katastrophale verkehrt.

„Ich habe über jeden Moment dieser Party immer und immer wieder nachgegrübelt und dabei Hinweise, Signale ausfindig zu machen versucht, ich habe nach Möglichkeiten gesucht, wie man alles hätte anders machen können. Aber es gab keine Anhaltspunkte.“ Ginny ist die Ich-Erzählerin, die Kindesmißbrauch, fünf Fehlgeburten, lieblose Ehe, enttäuschte Liebe, den Tod des Vaters und einer Schwester übersteht, aber weil sie weder beobachten noch deuten kann, bleibt ihre Erzählung trivial: „Die Fähigkeit, die Rose besaß, sich zu erinnern, zu wissen, zu urteilen, (...) war ihr besonderes Talent, und es hatte sich nicht auf mich übertragen.“

Ginny hat kein Talent außer dem zum Überleben. Am Ende verläßt sie die Farm und den Ehemann und fängt als Kellnerin in der nahegelegenen Stadt an. Ihre Flucht soll eine Art Selbstverwirklichung darstellen, denn in der Anonymität der Stadt kann Ginny endlich sein, wie sie möchte. Trotzdem ist dieser Roman weder ein Entwicklungsroman im traditionellen Sinn noch eine Emanzipationsgeschichte im modernen, sondern eine unendlich langweilige Familiensaga, angelehnt an das King Lear-Motiv. Die tausend Morgen Land stehen für das Königreich, das geteilt wird, der alte wahnsinnige Vater für den König. Aber den Figuren Smileys fehlt jene dramatische Größe, die im imaginierten Leid hätte entstehen können. Vergebens setzt die Autorin altbewährte Spannungsmomente wie Liebe und Verrat, Krankheit und Tod, Unfall und Mordversuch ein. Auch die Kunstlosigkeit ihres Sprachgebrauchs entschädigt einen nicht, denn sie ist in Wirklichkeit Stillosigkeit.

Vom Schtetl zum Villenviertel

Ganz anders die Familiensaga, die der Roman von Mordecai Richler erzählt. Es handelt sich um die verrückte Geschichte der jüdischen Familie Gursky — vom osteuropäischen Schtetl bis hin zum Villenviertel in Montreal, von den Pogromen des neunzehnten Jahrhunderts zum Wohlstand im zwanzigsten. Dieser Weg kennt viele Ab- und Umwege: Ephraim Gusky überlebt englische Gefängnisse und arktische Kälte, seine Söhne lassen sich in der kanadischen Wildnis nieder. Seine Enkelkinder schließlich werden Millionäre, indem sie die unter der Prohibition dürstenden Amerikaner von Kanada aus mit Whiskey versorgen.

Aber der Reichtum bekommt dem Familienzusammenhalt nicht, die brüderlichen Streitigkeiten arten in geschäftliche Auseinandersetzungen aus. „Kaum waren wir aus den Niederungen der Mühsal in den Garten des Überflusses aufgestiegen und genossen unsere ersten schmackhaften Bissen vom Filetstück des Lebens, fingen Solomon und Bernard an, sich erbittert zu bekriegen.“ Solomon verschwindet bei einem Flugzeugunfall, der ungeklärt bleibt, und ein Freund seiner Kinder versucht, sein Leben und seinen Tod zu rekonstruieren.

Dieser Versuch, der auf Quellenfiktion, Dokumentation, Zeugenaussagen und Tagebuch gründet, gelingt nicht — anders als Richlers Roman. Er ist Familiengeschichte, Assimilationsgeschichte, Liebesgeschichte, Gangster- und Erfolgsgeschichte zugleich und vermittelt einen Eindruck von dem Völkergemisch, das die kanadische Kultur bis heute prägt. Zwischen Christen, Indianern und Inuit entsteht in diesem Roman, bedingt durch ihre schicksalhaften Beziehungen zu den Gurskys, eine fiktionale Gleichheit. Die Gurskys ihrerseits kennen keine nationalen oder konfessionellen Einschränkungen und führen in London, New York oder Montreal ein ebenso schrilles Leben wie in der Arktis. Jüdische Weisheit und puritanischen Pragmatismus, Satire und Parodie, Groteske und Phantastik verknüpft Richler in seinem Roman, und die Charaktere überzeichnet er zu solcher Unwahrscheinlichkeit, daß sie schon wieder glaubhaft werden. Aber nicht nur in der Komik der Charaktere liegt der Witz dieses Buches, sondern auch in der Handlung, die sie tragen und die voller überraschender Entwicklungen ist.

Witzig sein möchte auch T. Coraghessan Boyle mit seiner Satire über eine Künstlerkolonie auf einer Insel vor der Küste Georgias. Die friedliche Idylle wird gebrochen, als ein Matrose von einem japanischen Frachter ins Meer springt und auf der Insel Rettung sucht. Hiro (geschrieben wie englisch hero, ,Held', gesprochen wird), in seiner Heimat ein Außenseiter, stellt sich vor, daß er in Amerika dazugehören könnte. Als Sohn einer Japanerin und eines Amerikaners war er „ein Halbblut, ein happa, eine Langnase, ein Butterstinker — und zudem noch ein Waisenknabe —, für immer ein Fremder in der eigenen Gesellschaft ... Wenn die eigene Gesellschaft eine geschlossene war, so war die amerikanische dagegen weit offen —, das wußte er, er hatte Filme gesehen, Bücher gelesen, LPs gehört —, und jeder konnte dort tun und lassen, wozu er Lust hatte.“

Geschlossene Gesellschaft

Diese romantische Vision von Amerika wird bald zerstört. Vergebens wird Hiro von einer Schriftstellerin in der Künstlerkolonie versteckt, als Polizei und Einwanderungsbehörde hinter ihm her sind. „Sie hatten ihn eingefangen. Zur Strecke gebracht. Ihn mit ihren Gewehren und Hunden und Negern überwältigt. Sie hatten ihn eingefangen, ja. O ja. Hatten ihm Schläge und Handschellen verpaßt, hatten ihm ihre Ellenbogen in die Rippen, in den Bauch, ins Kreuz gerammt. Hatten ihn geschlagen, beschimpft, erniedrigt und Spießrutenlaufen lassen, hatten gejohlt und ihn bespuckt und als Japsen, Schlitzauge und Chinese bezeichnet.“

Immer wieder wird Hiro verhaftet und immer wieder kann er fliehen — bis er schließlich aufgibt. Denn als nach all der körperlichen Erniedrigung die schöne Schriftstellerin ihn auch seelisch enttäuscht, besinnt sich Hiro auf japanischen Anstand: als eifriger Leser von Mishima begeht er Harakiri. Damit bewahrt er sich den Stolz und die moralische Überlegenheit, bleibt ein Überlebender über den Tod hinaus. Sein kurzes Abenteuer in Georgia aber, das ein derart dramatisches Ende nimmt, liefert der Schriftstellerin eine Geschichte — und stellt sie selbst ins Rampenlicht. „Dann, erst dann wurde ihr klar, was für eine großartige Story das ganze war. Und was für eine großartige Rolle sie dabei gespielt hatte... Diese Erkenntnis durchfuhr sie in einem kurzen, grellen, blitzlichterhellten Augenblick der Erleuchtung. Sie lächelte in die Kameras.“

So tauscht sie die Fiktion für die Wirklichkeit ein, die Schriftstellerei für den Journalismus, der „ein achtbarer Beruf“ ist.

Boyles freche Wortgewandtheit, die in der Übersetzung erhalten geblieben ist, macht den Roman zu einer leichten Lektüre. Direkte Hiebe auf die amerikanische literarische Bohème und eine ironische Entlarvung der Vorurteile, die die Künstler ebenso wie die Behörden hegen, verhindern, daß er auch eine simple Lektüre wird.

Vier Romane, 2153 Seiten nordamerikanische Gegenwartsprosa, die zeigen, wie wandlungsfähig literarische Archetypen sein können. Der Überlebende ist als Figur lebendig wie eh und je, aber er treibt sich nur noch am Rande der Gesellschaft herum: Penner, Gauner oder Flüchtling. Viele Male gebrochen, aber nie besiegt, bleibt er, was er schon immer war: ein unheroischer Held.

Cormac McCarthy: „Verlorene“. Roman. Deutsch von Hans Wolf. Rowohlt Verlag, Reinbek 1992. 672 Seiten, geb., 48 DM.

Jane Smiley: „Tausend Morgen“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hannah Harders. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1992. 465 Seiten, geb., 44 DM.

Mordecai Richler: „Solomon Gursky war hier“. Roman. Aus dem Englischen von Hartmut Zahn und Carina von Enzenberg. Hanser Verlag, München 1992. 616 Seiten, geb., 49,80 DM.

T. Corghessan Boyle: „Der Samurai von Savannah“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser Verlag, München, 1992. 400 Seiten, geb., 39,80 DM.