Die Geheimnisse von Madrid

Von harmlosen Kichererbsen in der Schüssel über die Mortadella des Ekels und die Blutwurst des Reims bis hin zu durchgetrennten Kehlen und abgeschnittenen Ohren: Stadtromane aus Spanien  ■ Von Katharina Döbler

Wie viele Dinge gehen in eine Truhe! Fast ein Universum, das Universum, das zur Diskussion steht und von dem wir alle Beweise und Abschnitte gesammelt haben, falls es einmal rekonstruiert werden sollte.“

Das Fast-Universum, von dem hier die Rede ist, ist die Stadt Madrid, wie sie vor dem Bürgerkrieg war; und die gesammelten Beweise und Abschnitte, aus denen es rekonstruiert wird, sind die erinnerten Beobachtungen eines professionellen Flaneurs.

Magisch

Ramón Gómez de la Serna, eine der schillerndsten Gestalten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre in Madrid, war ein echter Vielschreiber, der neben unzähligen Zeitungsartikeln angeblich über 150 Bücher verfaßt hat. Gómez de la Serna — oder schlicht Ramón, wie er sich in kokettem Understatement selbst zu nennen pflegte — wird in Deutschland in den letzten Jahren gerade erst wiederentdeckt. Zum Beisiel als Erfinder der greguerias. In diesen hübschen kleinen Gedankenschleifen aus verblüffenden Verknüpfungen und poetischen Einfällen konzentriert sich sein äußerst eigenwilliger Stil, überreich an sich verselbständigenden Metaphern; seine Spuren lassen sich bis in die lateinamerikanische Gegenwartsliteratur hinein verfolgen. Don Ramón ging, wie so viele seiner Generation, ins Exil nach Buenos Aires, wo er 1963 starb.

Dort entstanden eben jene „Nostalgias de Madrid“, sein Heimwehbuch über die jenseits des Atlantiks versunkene Stadt. Als Summe aller aus der erwähnten Truhe zutage geförderten magischen „Abschnitte“, in denen Straßen, Plätze, Theater und Parks vermerkt sind, entsteht die innere Textur einer Stadt, die zugleich eine Befindlichkeit ist, ein steinerner Zustand, ein Lebensgefühl: „Madrid ist eine Ecke im Wind, in der Kälte und der Sonne der Gerechtigkeit, ist ein junger Mann mit Mütze oder ohne, der auf niemanden wartet, denn er steht Wache für den Fall, daß uns das Ausländische überfällt.“

Dem Madridisten Ramón ist jeder Anlaß — ein Musikpavillon, das Geräusch von Kichererbsen in einer Schüssel — recht, um seinem geschriebenen Stadtplan noch eine Schraffierung, einen weiteren Schatten, ein paar schräge Striche hinzuzufügen. Und weil „der Witz etwas sehr Ernstes ist, das den Menschen verändern kann“, ist sein Madrid auch die Summe aller Witze, die man über eine Stadt, ihre Häuser, deren Bewohner und ihre alltäglichen Gebrauchsgegenstände machen kann.

Ein bißchen Staub angesetzt hat sie aber doch, Don Ramóns poetische Magie des Gestern, in der ein langstieliger Löffel ebenso wie die traditionelle Spitzengardine schwer an der Patina ihrer Bedeutungen tragen. Das Madrid von heute, die Hauptstadt der — schon wieder dahingegangenen — movida, das neueuropäische Madrid, wird man in den „Nostalgias“ kaum wiedererkennen. Städte, möglicherweise, waren 'damals‘ noch etwas anderes. Wie das Gemurmel in einer Muschel rauschen Ramóns geistreiche Beschwörungsformeln Grüße aus alten Zeiten, wo die Leute sich nur aus dem Fenster beugen mußten, um per Telepathie Neuigkeiten zu erfahren. Die Stadt war noch reich an Geheimnissen: hier „ein unveröffentlichtes Stück Weg“, das es zu entdecken gilt, dort die Majestät der Balkone („Grandseigneure der Kontemplation“) und wieder woanders die unwiderstehliche Anziehungskraft der Plaza del Oriente — auf einem seiner „Bänke Platz zu nehmen, übertraf alle Begräbnisse“.

Echte Don-Ramón-aficionados werden in diesem Buch vielfach Gelegenheit haben, beim Entdecken einer gelungenen gregueria begeistert aufzujuchzen. Leider hat sich die Übersetzerin Gerda Schattenberg mit Ramóns verwickelten Wortschnüren deutlich schwer getan. Das Ergebnis sind oft schwerfällige Bandwurmsätze, deren Rhythmus abhanden gekommen ist. Um sich in diesen Seiten unter dem Überhauch des Blicks zurück in Wehmut wohlzufühlen, um die „Spaziergänge“ genießerisch nachvollziehen zu können, muß man schon etwas übrig haben für das Manieristische des ramonismo — und für Nostalgien überhaupt.

Imaginär

In Luis Landeros Erstlingsroman „Späte Spiele“ erscheint die Stadt Madrid, immerhin zu Noch-Lebzeiten des Generalissimo, womöglich noch altertümlicher als in Ramóns „Nostalgias“. Gegenstände wie Solartaschenrechner wirken wie ferne Grüße aus der Zukunft, und schon Motorräder sind umgeben mit der Aura rasanten technischen Fortschritts. Das liegt hauptsächlich an dem Helden Gregorio Olias, einer Gestalt wie aus dem vorigen Jahrhundert. Ein in seinem Stadtviertel friedlich vor sich hinmodernder Kleinbürger, der vom Leben nicht viel mitbekommt, Schreiber (nicht etwa kaufmännischer Angestellter!) von Beruf, Dichter von Berufung.

Wie schon sein Vater und sein Großvater, rechtschaffene Provinzler, wie auch sein Onkel, bei dem er aufwuchs, hat er schwer zu tragen an einer Leidenschaft, einem köstlichen Fluch: dem Eifern. Das spanische Wort afán — man könnte es auch mit „Drang“ oder gar „Sucht“ übersetzen — meint etwas Unkontrolliertes, etwas, das stärker ist als die Helden selbst, das sie entweder rauchend auf einem Stein, auf einer Gartenbank sitzend, oder in einem Kiosk unablässig „im Kontobuch ihrer Träume“ blättern läßt, in den langen Pausen eines ereignislosen Lebens; sie fühlten sich immer zu Höherem berufen.

Was Gómez de la Serna in seinen „Nostalgias“ so wortreich beschwört — die Magie der Stadt Madrid —, existiert für Gregorio nur in der Imagination: Die wunderbaren Geheimnisse der Stadt erfindet er sich selbst. Seine ebenso lächerliche wie hartnäckige Muse ist ein Männchen jenseits der besten Jahre, mit Namen Gil, dreimal Gil, mit Vornamen, Vater- und Mutternamen, Vertreter für Wein und Oliven in der Provinz, wo sie am provinziellsten ist.

Auch das Gregorio real umgebende Madrid ist franquistische Provinz, keine Metropole; ein Monument eisernen kastilischen Kleinbürgertums, weit, weit entfernt vom Meer, von Dschungeln und von der Revolution, kurz: von allen Abenteuern der Welt.

Gils telefonische und kategorische Forderungen nach Nachrichten aus der Großstadt, nach den Zeugnissen von Geist! und Fortschritt! bescheren dem schon kahlköpfig gewordenen Gregorio einen Frühling des Eiferns. Ihm zuliebe wird er zum Hochstapler, zum imaginären Weltenbummler, Politaktivisten, Bohemien und Dichter Augusto Faroni, zum Autor in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: er beginnt, seine eigene Fiktion zu verkörpern.

Was dem Don Quijote das Rittertum — schon zu seinen Zeiten eine längst außer Gebrauch gekommene Angelegenheit —, ist dem kleinen Angestellten Gregorio Olias das romantische, ebenfalls nicht mehr ganz zeitgemäße Dichtertum. Und weil zu einem Dichter auch Verse gehören, verfaßt er das zu seiner Fiktion passende Buch: Gedichte samt Biographie, Bibliographie, Vorwort (von einem gewissen Hemingway) und lobender Kritiken. Das Gedruckte ist die gültige Legitimation des Dichters. Oder, wie es Gregorio ausdrückt: „Der einzige wirkliche Schwindler ist das Buch.“

Die Grenze zwischen schizophrener und künstlerischer Produktivität, krimineller und kreativer Energie, zwischen Dichtung und Wahrheit ist fließend, wird zu einem reißenden Grenzfluß, der beide, den eifernden Dichter und sein einsames Publikum, mit sich trägt und schließlich auf einer anderen Seite der Realität, noch ein Stück weiter hinter dem Mond, wieder an Land setzen wird.

Gregorios Abschied von seiner — trotz schwerer schöpferischer Krisen — recht beschaulichen Alltagswelt mit der ewig strickenden, ewig jungfräulichen Gattin („die legitime Tochter der Gewohnheit“) findet ausgerechnet an dem Tag statt, an dem sich „der General“ in den Straßen seiner Hauptstadt feiern läßt. Zwar interessiert sich der kleine Schreiber nicht für Politik; in seinen Träumen aber ist er Revolutionär, schon allein der damit verbundenen Romantik wegen. Sein Verhältnis zum Franco- Regime entspricht in etwa dem zu seiner Wohnung: auf den Polstern seiner Fortschrittsgläubigkeit und seiner überschäumenden dichterischen Phantasie hat er es sich bequem gemacht, wenn auch die Schwiegermutter als groteskes Zerrbild der herrschenden spanischen Offizierskaste manchmal etwas lästig wird.

Ist Gregorio Olias aber nicht doch ein wirklicher Dichter? Oder, den Ausweg läßt er sich immerhin offen, wenigstens des Dichters Biograph und sein Vetter? Etwas jedenfalls hat der Hochstapler mit dem Romancier, der ihn erfunden hat, und dem Dichter, den er erfindet, gemeinsam: gelegentliche Selbstzweifel (welcher Kunstschreiber hat sie nicht?), eine blühende Phantasie und — ein gedrucktes Buch.

Luis Landero läßt Olias genüßlich und ganz dichtermäßig in entgleister Metaphorik an „fehlender Inspiration, infernalischer Leere, der Spinne der Furcht, der Mortadella des Ekels und dem entsetzlichen Zweifel an der Tauglichkeit der Kunst und des Lebens“ leiden; er legt ihm eine deftige Poetik nach Hausmacherart („Suchen wir Nährwörter ohne jedes Naschwerk, ... das Erbsenwort, das sättigende Mahl, das rülpsen läßt, den Schinken eines Entwurfs, die Blutwurst eines Reims“) in den Mund. Wenn der angesehene „Professor“, Mittelpunkt eines sektenhaften Intellektuellenzirkels, das Ergebnis von Olias heißem Bemühen als beachtliches Werk „parodistischer Volkskunst“ bezeichnet, ist das nicht nur Landeros spöttisches Eigenlob, sondern auch ein Hinweis darauf, daß Hochstapelei und Kunst womöglich aus demselben „Eifern“ geboren sind.

Im Gegensatz zu den „literarischen“ Platitüden aus Gregorios Feder, die Landero seiner kichernden Leserschaft zum Fraß vorwirft, steht seine gelassene, präzise Erzählweise voller Liebe zum bizarren Detail: Das doppelte Spiel eines Romanciers, der mit beidem, seinem eigenen Handwerk und dessen Parodie, gekonnt spielt, der mühelos die Fronten zwischen Kunst und Hochstapelei wechselt.

Wenn man sich die beiden Helden, die die Weisheit der Narren mit Löffeln gefressen haben, genauer ansieht, kann es einem ergehen wie Gregorio selber beim Betrachten eines Dichterporträts: „und im tiefsten Innern erkannte er unfehlbar und arglos sich selbst.“

Unterirdisch

Es gibt in Spanien immer noch die schöne Tradition, daß Schriftsteller, und zwar bekannte Schriftsteller, für eine Tageszeitung Romane schreiben. Richtige Auftragsarbeiten, Serien sozusagen, jede Woche ein Kapitel. (Zur Zeit kann man „Die geheimnisvolle Verabredung“ von Antonio Munoz Molina in El Pais lesen.)

„Der Flug der erloschenen Schönheit“ von Manuel Vicent ist eine solche Auftragsarbeit und erschien letztes Jahr in El Pais unter dem wunderbaren Heftchenroman-Titel „Domingo Negro“ (Schwarzer Sonntag). Es ist dem Buch anzumerken, daß es etappenweise geschrieben wurde. Gebaut ist es wie eine wildgewordene Seifenoper, und am Ende jedes Kapitels erscheint unsichtbar ein kleingedrucktes „Fortsetzung folgt“. Ebenso wird am Anfang noch einmal kurz daran erinnert, was „Letzte Woche“ passierte.

Wie in einem normalen Krimi fängt alles damit an, daß der Araber (?), Jude (?), pakistanische Prinz (?), persische Fürst (?) Boro Salami beim Zocken mit zwei Assen in der Hand den Löffel abgibt — zum Entsetzen des Rübenluis, des Schinkengroßhändlers mit rosafarbenem Mercedes, des schwulen Lateinlehrers und der übrigen Stammkundschaft des Spielclubs. Im Lauf der Zeit werden sie Stammkunden eines diskreten Leichenschauhauses, unter der Führung einer schon siebenmal gemordeten Unterweltprinzessin und Wahrsagerin; ruinierte Männerexistenzen pflastern ihren Weg.

Die Toten haben das Sagen in dieser — im zweifachen Sinn — Unterwelt von Madrid: In der Kanalisation, den Tunnels, den Klappen, den Bars und Leichenkellern (wo sie traditionsgemäß immer in der Überzahl sind) spielen sie ein endloses Spiel in der Art des „Ich packe in meinen Koffer“-Spiels. Bei Manuel Vicent heißt das: Ich packe in meinen Roman. Und da geht eine Menge hinein: ein Toter, ein Ring, ein Hühnerficker, zwei wilde Eber, eine Wiederauferstandene, noch mehr Tote, eine durchschnittene Kehle, ein toter Richter, ein abgeschnittenes Ohr, eine Telefonleitung zur Hölle, ein verschrumpelter Herzog, ein Päderast, ein Krokodil, schon wieder ein Toter, ein goldener Schlüssel, ein verborgener Schatz, eine schwule Antilope usw. usf. Ein völlig entfesselter Reigen schräger Gestalten, miteinander verknüpft durch absurde Handlungsstränge, tobt durch ein mehr unterirdisches als irdisches Madrid, wo die Huren „mit vier glühenden Nägeln an das Holz der Haustore gekreuzigt“ auf Kundschaft warten und auf der Müllhalde Pflanzen in „mit vergammeltem Hühnerfleisch gefüllten Gamaschen“ blühen.

Es ist das Madrid der achtziger Jahre, mit seiner Aufbruchstimmung, seinem hektischen Amüsement, das hier als schrille Nekropole auftritt, mit Kellern voller Erinnerungen, Müllhalden voller angebrochener Geschichten, eine Stadt voller Toter ohne Begräbnis. „Die brauchen noch eine Menge Musik“, sagt die tote Dame Georgina, „um dahinterzukommen, daß sie tot sind.“ So, als beginne sich die Handlungsebene allmählich (von Woche zu Woche) zu neigen, beginnt die Geschichte — genauer gesagt: die vielen ineinander verzahnten Geschichten — unaufhaltsam zu verrutschen und stürzt, ständig ihre Zusammenhänge verändernd, in ein rauschendes Finale.

Die Elemente des Heftchenromans, der novela negra, des Märchens und des Melodrams mit einer Prise Grand Guignol fallen und kugeln übereinander und vermischen sich zur poetischen Groteske, zu einem sinnlos schönen, makabren und ganz und gar unernsten Totentanz — unter dem Pflaster von Madrid.

Ramón Gómez de la Serna: „Madrid. Spaziergänge.“ Aus dem Spanischen von Gerda Schattenberg Rincón, Wagenbach-Verlag, 1992, 120 Seiten, 19,80 Mark.

Luis Landero: „Späte Spiele“. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen, S. Fischer-Verlag 1992, 492 Seiten, 44 Mark.

Manuel Vicent: „Der Flug der erloschenen Schönheit“. Aus dem Spanischen von Georg Danzer, Residenz-Verlag 1992, 176 Seiten, 38 Mark.