Begegnungen im Konjunktiv

Von der Satire bis zum semiotischen Roman: Mexikanische Prosa in deutscher Übersetzung  ■ Von Petra Kohse

Die mexikanische Literatur — das sind hierzulande vor allem die Werke von Octavio Paz und Carlos Fuentes. Vielleicht kennt man noch Rosario Castellanos oder Angeles Mastretta. Die vergleichsweise geringe Anzahl von Übersetzungen läßt jedoch keineswegs den Schluß zu, Mexiko sei ein literarisches Entwicklungsland. Im Gegenteil. Die mexikanische Prosa gedeiht von Chiapas bis Chihuahua, vor allem aber im Asphaltdschungel von Mexico City, der größten Metropole der Welt.

Den lebendigen Beweis dafür lieferten das Haus der Kulturen der Welt und das Literaturhaus Berlin Anfang des Jahres. 13 Erzähler und Erzählerinnen aus Mexiko waren auf ihre Einladung zu einer Lesereihe in die deutsche Hauptstadt gekommen. Die Erzählungen und Romanausschnitte, mit denen sich die in ihrer Heimat renommierten, hier jedoch nahezu unbekannten Autoren präsentierten, sind in der 164. Ausgabe der Zeitschrift horen dokumentiert. Etwa zeitgleich erschien auch bei Volk und Welt ein Band mit 22 erstübersetzten mexikanischen Erzählungen. Möglicherweise inspiriert vom Buchmessenschwerpunkt Mexiko klappte jetzt der Fischer-Verlag mit dem Taschenbuch „Mexiko erzählt“ nach, das aber zu zwei Dritteln nur nachgedruckte Texte enthält.

Wenig übersetzt

Zu den in mindestens zwei der genannten Anthologien vorgestellten Autoren gehören Jesús Gardea, Bárbara Jacobs, Silvia Molina, Maria Luisa Puga, Guillermo Samperio und Juan Villario. Weder stilistisch noch thematisch lassen sie sich unter ein literarisches Schlagwort subsumieren. Der 53jährige Gardea beispielsweise hat seine Erzählungen „Er lebt“ (deutsch von Andreas Klotsch) und „Das Feuer im Baum“ (deutsch von Thomas Brovot) nach einer Traumlogik komponiert. Es sind beunruhigende Texte, in denen der Alltag plötzlich fremden Gesetzen folgt.

Ganz anders die Prosa von Bárbara Jacobs (Jahrgang 1947). Im privaten Plauderton, schlicht und nicht ohne Ironie, nimmt sie die alltäglichen Menschen aus der Teenager-Perspektive unter die Lupe. Oder Silvia Molina (Jahrgang 1946). In ihrer Erzählung „Neuanfang“, die in der Übersetzung von Marianne Gareis sowohl im horen- Heft als auch im Fischer-Buch nachzulesen ist, verläßt eine krebskranke Frau ihre Familie, bricht aus. Das wirkt in Deutschland zwar selbstverständlicher als in Mexiko, der Hochburg des Machismo, aber der entschlossen und unemotional formulierte Text hat auch hiesigen Lesern etwas zu sagen. Man wünscht all diesen Autoren und Autorinnen — von denen nur der kleinere Teil hier genannt werden kann —, daß auch ihre Romane übersetzt werden. Aber die Wege der Verlagspolitik, Übersetzungen betreffend, sind eben unerforschlich.

Ein eklatantes Versäumnis in jedem Fall, daß José Emilio Pachecos Roman „Morirás lejos“ (Du wirst in der Ferne sterben) nicht früher in deutscher Übersetzung erhältlich war (das Original erschien bereits 1967, der 1939 geborene Autor überarbeitete es 1977). Erst jetzt bringt der österreichische Residenz-Verlag den Roman in der Übertragung von Leopold Federmair und Maria Alejandra Rogel Alberdi heraus. Ein Grund der bisherigen Zurückhaltung könnte sein, daß „Der Tod in der Ferne“ (so der deutsche Titel) ein zutiefst deutsches Thema behandelt: den Nationalsozialismus.

Opfer-Täter und Täter-Opfer

In einem Zimmer einer mexikanischen Großstadt hält sich seit Jahren ein Mann versteckt. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt besteht in einem Spalt in den heruntergelassenen Jalousien, durch den er nach draußen linst. Er blickt auf einen Park. Dort sitzt Tag für Tag ein zeitunglesender Mann auf einer Bank.

Soweit die Grundkonstellation. Nun beginnt der Autor zu spekulieren. Der Mann im Zimmer könnte ein deutscher Nazi sein, der vor den Alliierten über den Großen Teich geflohen ist. Er heißt „Em“. Em wie Mengele zum Beispiel, der chirurgische KZ- Schlächter und Menschenexperimentator, der in Deutschland für tot gehalten wird. Und in dessen Sarg ja doch ein anderer liegen könnte. Oder Em, der für die Deportation der griechischen Juden aus Saloniki in die Vernichtungslager der Nazis verantwortlich war. Em wie Mörder.

Em hat Angst vor „Jemand“ im Park, von dem er sich verfolgt fühlt. Vielleicht handelt es sich ja nur um einen Arbeitslosen oder einen wartenden Liebhaber. Wer aber sagt, daß es kein überlebender KZ-Häftling ist? Zum Beispiel einer der aus Saloniki Deportierten? Lebenslänglich könnten seine Gedanken von Rache bestimmt worden sein, und nun hat er Em aufgespürt, um ihn zu töten? Vielleicht. Begegnungen im Konjunktiv.

Der Täter als potentielles Opfer, das Opfer als potentieller Täter — Pacheco variiert die mögliche Identität der beiden Männer, um dann wieder alles in Frage zu stellen: „Oder aber (f): Alles ist Einbildung: niemand sitzt auf der Parkbank“ und „(i): In Wirklichkeit befindet sich niemand hinter dem Fenster. Em ist schon seit über zwanzig Jahren tot.“

Zwischen die Fenster-Park-Kapitel hat Pacheco historische Passagen geschoben. Sie heißen „Diaspora“ und handeln von der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem durch die Römer; oder sie heißen „Großaktion“ und lassen einen Augenzeugen des Warschauer Ghettos zu Wort kommen. Oder aber: „Götterdämmerung“. Unter diesem Titel wird die Zeugung Adolf Hitlers in Braunau sowie sein Tod in Berlin beschrieben. Sachlich wie eine Chronik sind diese Teile gehalten und kontrastieren mit dem verwickelt und hypothetisch formulierten Kaleidoskop des möglichen oder unmöglichen Zusammenhangs zwischen „Em“ und „Jemand“. Sicher ist nur der Tod. Unsicher, aber befürchtet: die Rache.

Nur Armand Gattis wesentlich später verfaßtem „Liebesgesang der Alphabete von Auschwitz“ vergleichbar, benennt Pacheco das Grauen des Vernichtungsapparates: „und wenn der Stapel erstarrter Körper die unumschränkte Macht des Todes bezeugt/ wird das Entlüftungssystem eingeschaltet die giftige Luft abgesaugt und wenn die große Eisentür aufgeht/ erscheinen die Männer vom Sonderkommando/ säubern die Zwangsarbeiter die Kammern mit Wasserschläuchen vom Blut Kot Urin und Erbrochenen der Toten (...)“

Wieso aber schreibt ein Mexikaner, dessen Land in seiner Kindheit auch Zufluchtsort deutscher Kommunisten war, über den Nationalsozialismus — angesichts so vieler politischer und sozialer Katastrophen auf seinem eigenen Kontinent? Wieso ein Nichtjude über die Geschichte der Juden? Inmitten des Labyrinths von Kapitelfragmenten (mit teilweise minimaler Interpunktion), deren Struktur und Zusammenhang sich im Laufe der Lektüre allmählich erschließt, findet sich eine universale Antwort auf diese Fragen: „der Haß ist der gleiche, die Verachtung ist die gleiche, der Welteroberungstraum wird eifrig weitergeträumt.“

Pacheco spekuliert über die Rache des Opfers am Täter, doch er spekuliert aus der Perspektive des Täters. Schuld schafft Angst, Angst schafft Aggression, Aggression Gewalt und diese Schuld. Opfer und Täter sind alt. Beide werden sterben. In der Ferne und vielleicht ohne sich begegnet zu sein. Die Gewalt lebt weiter.

Die Revolution als Posse

„Augustblitze“ heißt ein Roman von Jorge Ibargüengoitia (1928—1983), der jetzt, übersetzt von Peter Schwaar, bei Suhrkamp erschienen ist. Verglichen mit „Der Tod in der Ferne“ handelt es sich stilistisch und thematisch um ein Leichtgewicht. Seit zwei Jahren ist von Ibargüengoitia bereits „Die toten Frauen“ (gleicher Verlag, gleicher Übersetzer) auf dem Markt. Im Original erschien es 1977, „Augustblitze“ bereits 1964. In beiden Büchern spielt Ibargüengoitia mit fingierter Authentizität. Trocken und selbstironisch beschreibt ein Divisionsgeneral der mexikanischen Revolution die unseligen Ereignisse rund um seine letzten Schlachten gegen die Regierungstruppen.

Die Geschichte lebt von der absurden Ernsthaftigkeit, mit der der General und seine Freunde ihre Schlachten planen, von ihren Kleintierzüchtervereinsintrigen und dem kindlichen Egoismus bei politischen Entscheidungen, die dann nie in Kraft treten: „,Ich will Minister sein‘, gab ich ihnen zu verstehen, nachdem wir uns gesetzt hatten. ,Egal, welches Ressort, aber Minister‘.“ Die in Mexiko geheiligte Revolution von 1913, gibt Ibargüengoitia uns zu verstehen, war im Grunde eine Provinzposse; auch die hehrsten Revolutionäre sind korrumpierbare Idioten, Politik ist eine Reihe kleinlicher Racheaktionen — und der Krieg nicht mehr als ein Spiel.

„Augustblitze“ ist ein kleiner Stachel im Fleisch der Revolutionsheroisierung, eigentlich eher eine Erzählung als ein Roman, Futter für höchstens zwei vergnügliche Lesestunden.

Obsession der Sprache

Höchste Konzentration erfordert hingegen die Lektüre von Fernando del Pasos Mammutwerk „Palinurus von Mexiko“. Der 57jährige del Paso, seit 1989 mexikanischer Konsul in Paris, ist, wie auch Pacheco, in der horen-Anthologie vertreten. Neben den beiden dort abgedruckten Texten aus seinem neuesten Roman „Noticias del imperio“ („Nachrichten aus dem Imperium“, soll demnächst im Peter Hammer-Verlag erscheinen) ist dieses im Original seit 1977 vorliegende Buch das einzige, das — dank Susanne Lange — ins Deutsche übersetzt wurde.

Die Handlung ist rasch erzählt: Der mexikanische Student Palinurus liebt seine Kusine Stephanie, beginnt Medizin zu studieren, nimmt im August 1968 an den Studentendemonstrationen teil, wird von einem Panzer angefahren und stirbt. Diese Handlung aber ist das Unwesentlichste in dem knapp 900seitigen Roman. Der eigentliche Schauplatz ist die Sprache.

Palinurus monologisiert. In teilweise seitenlangen Sätzen versucht er, seine Geliebte und Kusine Stephanie zu beschreiben. Dabei geraten ihm die Metaphern nicht selten außer Rand und Band: „Stephanie war weder ein Telephon noch ein Akrostichon oder ein Marzipantauber. Stephanie wurde unter dem Gürtel nie dick wie eine Sanduhr, durch die die Hälfte des Getreides, der Gelüste und der Tage rann. Mit anderen Worten, inmitten dieses Volkes von Räubern und Holzfrüchten, wo ihre Kindheit wie ein sich windender Fluß verlief, war Stephanie nie der Beerentang des Südens, der Klang der Gischt oder ein entflochtener Verdacht.“

Palinurus' Worte haben ihre alltägliche Signifikanz verloren. Auch seine zweite Leidenschaft, die Medizin, ist ihm bloß ein phonetisches Abstraktum, der Körper eine Anhäufung von Fachtermini. Palinurus beherrscht sie im Schlaf und übersteht dennoch nicht die erste Vorlesung im Seziersaal der Universität von Mexiko-Stadt.

In einer Endlosschleife läßt del Paso Sprache um sich selbst kreisen, hypothetisch, indirektiv, ein Experiment, das zuweilen amüsant, meist aber sehr mühsam zu lesen ist. Dennoch ist es schlüssig: Für Palinurus haben die Begriffe ihre Erscheinungen verloren. Die Fülle der Möglichkeiten, Realität in Worte zu fassen, verschwimmt in seiner Phantasie zu einer Kolportage der Bezüglichkeiten, die Welt dissoziiert in Sprache.

Auf dieser linguistischen Ebene des Buches entwickelt sich die Handlung. Palinurus beteiligt sich, eher zufällig, an dem Studentenprotest und wird von einem Panzer mitgeschleift. Plötzlich drängt sich die mexikanische Geschichte in den Vordergrund dieses Sprachromans, der nun auch das Genre wechseln muß, um das Geschehen in den Griff zu bekommen: In einem Drama werden die Ereignisse retrospektiv aufgerollt. Verletzt liegt Palinurus im Hausflur. Während er sich die Treppen zu seiner Wohnung hochschleppt, berichtet er den Nachbarn von der Niederschlagung des Aufstandes durch die Polizei. Oben angekommen, stirbt er.

„Palinurus von Mexiko“ ist in medizinischer und sprachwissenschaftlicher Hinsicht ein semiotischer Roman: Zeichen und Bezeichnetes sind getrennt, die Sprache selbst mutiert zum Krankheitssymptom. Die politisch-historische Dimension wirkt aufgesetzt, aber in einer Hinsicht führt sie den Grundgedanken des Romans fort: in einer Welt, auf deren Komplexität der Einzelne keinen Zugriff mehr hat, ist politisches Handeln unmöglich geworden.

Auf einer dritten Ebene klärt der Autor selbst sein Verhältnis zur konventionellen, geschichtenerzählenden Epik Lateinamerikas. Die skurrilen Figuren, die Palinurus' Elternhaus bevölkern, könnten geradewegs den Romanen von Gabriel Garcia Marquez entstammen. Da ist beispielsweise Tante Luisa, die in Mexiko-Stadt nach französischer Zeit lebt, also mitten in der Nacht ihren Tag beginnt und am Nachmittag schlafen geht. Oder Don Prospero, der nur ein Auge hat und über eine reichhaltige Sammlung von Glasaugen verfügt, um für jeden Anlaß den entsprechenden Blick zu haben.

Sie, die Geschichtenträger, hassen die sprachlichen Ergüsse, mit denen Palinurus sie bei gelegentlichen Besuchen malträtiert. Die Alten wollen in Frieden der Vergangenheit gedenken. Heute, sagt del Paso, können keine Geschichten mehr erzählt werden, Politik läßt sich nur noch als Tragödie erfassen, und die endet mit dem letzten Akt. Meist tödlich.

Im Schlußkapitel wird Stephanies Kind geboren. Es heißt „Palinurus“. Pate stehen Figuren aus der gesamten Weltliteratur, von Gulliver über Cyrano de Bergerac bis hin zu Snoopy und Faust. Es ist die Geburt eines Romans aus dem Geiste der Enzyklopädie, eines Romans, in dem Geschichte in Einzelbegriffe zerfällt und die Sprache nur noch auf sich selbst verweist. Ein neues Beispiel für den Tod des Romans.

„Erkundungen. 22 Erzähler aus Mexiko“. Hrsg. von Andreas Klotsch. Übersetzt von Dorin Brennecke u.a., Volk und Welt, 327 Seiten, 24,80 DM.

„Sie wohnen in den Geschichten — moderne Erzählprosa aus Mexiko“. zusammengestellt von Kurt Scharf und Herbert Wiesner. Übersetzt von Wilfried Böhringer u. a. die horen. Band 164, 244 Seiten, 15 DM.

„Mexiko erzählt“. Ausgewählt und mit einer Nachbemerkung von Christoph Strosetzki. Neuübersetzungen von Gundula Graff u.a., Fischer, 260 Seiten, 14,90 DM.

José Emilio Pacheco: „Der Tod in der Ferne“. Aus dem mexikanischen Spanisch von Leopold Federmair und Maria Alejandra Rogel Alberdi, Residenz-Verlag, 160 Seiten, 39 DM.

Jorge Ibargüengoitia: „Augustblitze“. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. Suhrkamp, 119 Seiten, 16,80 DM.

Fernando del Paso: „Palinurus von Mexiko“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Frankfurter Verlagsanstalt, 896 Seiten, 78 DM.