Mit Bismillahirahmanirrahim in seine zitternden Arme

Emine Sevgi Özdamars Romanerstling „Das Leben ist eine Karawanserei“  ■ Von Joachim Sartorius

Ein Bauarbeiter warnt die Erzählerin und ihren Bruder Ali vor einem ungebrannten Kalkbrunnen. Mit dem Ausruf „Bismillahirahmanirrahim“ (im Namen Gottes, der schützt und vergibt) schließt er die Kinder in seine zitternden Arme und trägt sie „wie zwei Kürbisse“ zu einem Lastwagen: eine winzige Episode von zehntausendundzehn Episoden, die dieses Buch prall machen wie einen mit Ayran gefüllten Hammelbalg.

Was war davor? Die Geburt der Erzählerin in Malatya, Sprüche und Weisheiten der Großmutter Ayse, ein Umzug nach Istanbul, Einschulung und Umzug in „die religiöse Straße“ von Yeniyesir. Und danach? Pubertät in Bursa, Verarmung der Familie, Bankrott des Baugeschäfts des nichtsnutzigen Vaters, Selbstmordversuch der Mutter. Die Erzählerin (Emine ohne Zweifel, auch wenn sie ohne Namen bleibt) entdeckt die Bühne, arbeitet als Statistin in Molière-Stücken am Staatstheater Bursa. Es folgt wieder ein Umzug, dieses Mal nach Ankara, Besuch des Gymnasiums, dann erneut Istanbul, schließlich der Entschluß, nach Deutschland zu gehen: vorläufiger Abschluß einer Jugend in der Türkei von 1946 bis 1965. Schlußbild des Romans ist ein nach Deutschland fahrender Zug, ein Zug voll türkischer Frauen, die vor der Vermittlungsstelle der deutschen Botschaft in Istanbul ihr Examen (incl. Urinprobe) bestanden haben und sich nun, in einer von Ironie und Sarkasmus getränkten Szene, aus dem an sie verteilten „Handbuch für die Arbeiter, die in der Fremde arbeiten gehen“, vorlesen.

Der Roman hört dort auf, wo Emine Sevgi Özdamars erstes Buch, der Erzählband „Mutterzunge“ eingesetzt hatte, in West- Berlin, bei einer jungen Türkin, die auf der Suche ist, ihr eigenes Sprechen wiederzufinden in einem Akt der Befreiung, der gegen die allseitige Entfremdung gerichtet ist. Dieser schmale Band, rauher und konzentrierter als der mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis vorbejubelte Roman, war ihrer Mutter Fatma gewidmet. Nun spielen Fatma und die Großmutter Ayse zentrale Rollen in der Männerwelt des Romans. „Eine dunkle Frau“, so beschreibt Özdamar im Rückblick ihre 16jährige Mutter, „wie ein dunkler Friedhofsbaum sah sie aus“. Und dunkel, traurig, trotzig, hexenhaft sieht sie selbst aus, auf dem Foto, das als Frontispiz der „Mutterzunge“ dient.

Diesem Mädchen bringt die Großmutter das Sprechen bei, in Kaskaden aus Sprüchen und Weisheiten. Herta Müller, eine Seelenverwandte der Emine Sevgi Özdamar (zumindest in der Handhabung der Sprache), hat in dem Essayband „Der Teufel sitzt im Spiegel“ geschrieben: „Daß wir im Aufblitzen und Abtauchen leben, das zeigt am besten der Film. Seine Mittel sind die Mittel der Bilder. Ich habe oft den Eindruck, alles besteht aus einzelnen Bildern.“ Özdamars Roman ist so ein langer Lebens-Film aus einzelnen Bildern, die pausenlos vorüberziehen. Es gelingt ihr immer wieder, diese eigene, privateste Geschichte mit der Geschichte der Türkei zu verweben, doch die Bilder beider Geschichten sind meist phantastisch, magisch, überhöht. In ihrer Summe ergeben sie das absolute Gegenteil eines realistischen Türkei-Romans.

Diese Überfülle mag einen rationalistischen Leser gewiß krank machen, hat aber auch etwas Bezwingendes. Vielleicht das Bezwingende von Märchen. Nun werden Märchen gelesen, um über sie in Schlaf zu fallen. Aber da ist immer wieder, einhundertundeinmal, über den ganzen Text verteilt, dieses „Bismillahirahmanirrahim“. Es ist wie das Geräusch, das ein alter Wagen, bunt und zerbeult, auf der Achterbahn macht, wenn er gegen die Planken stößt und doch weiterzieht, mit stiebenden Funken in der Kielströmung. Emine Sevgi Özdamar beherrscht die Fahrbewegungen der Sprache, das Anfahren, Drehen, Absenken, Bremsen, Beschleunigen und so fort. Wer sich ihr anvertraut, wer bereit ist mitzufahren, der wird auch belohnt.

Belohnt auf gleich zweierlei Weise. Er lernt dazu: Der Islam ist präsent (so grün wie der Schutzumschlag des Buches), die türkische Sprache und ihre Musikalität, die Reformen Atatürks, das neue Alphabet. Seit Barbara Frischmuths „Das Verschwinden des Schattens in der Sonne“ kenne ich keinen in deutscher Sprache geschriebenen Roman, der zwischen den Zeilen so viel über türkische Kultur und über den Zustand der Türkei in den fünfziger und sechziger Jahren zu berichten weiß. Während die türkischen Soldaten 1951 im Koreakrieg kämpfen und sich den zweifelhaften Ruf brutaler Nahkämpfer erwerben, schauen sich Emines Eltern Filme mit Pürt Lankester und Ave Kartener an. Die Hügel Ankaras werden nachts mit Gecekondu-Häusern überzogen, der türkischen Variante der Favelas. Die Militärs putschen: erster Putsch einer langen Reihe von Putschen, und richten Ministerpräsident Adnan Menderes hin. Politik und Korruption werden ins poetische Sprechen gezogen, der Bosporus und seine Dampfer, die Verse Orhan Velis, die todtraurigen, mächtigen und verrückten Hexen-Frauen: Alles ist da.

Dem, der bereit ist, mitzugehen, schenkt Özdamar ihre Gabe der Wahrnehmung. Das ist die andere Belohnung. Es sind genaue, schön genaue Dinge, deren Sichtbarkeit aus dem Gehen und Atmen der Sprache entsteht. „Der Schnee ist wie ein nichtangefaßtes Mädchen“, heißt es da, oder ganz einfach: „Die Zunge der Liebe ist sehr alt“, und Fatma rät ihrer Tochter: „Die Jungen können ihre Ware spazieren führen, aber ein Mädchen muß über ihrer Schachtel sitzen und arbeiten.“

Eine der schönsten Szenen des Buches schildert einen nächtlichen Besuch im Frauenbad: „Weil es Nacht geworden war, saßen jetzt alle Frauen mit den Sternen zusammen, die aus den Badekuppelgläsern heruntergeregnet waren. Die Frauen sahen auch aus wie Sterne, die ihre Adressen nicht mehr wußten. Ich wusch den alten Frauen ihren Rücken, ihre alte Haut redete vom Tod, und die Sterne zitterten um ihre Körper im fließenden Wasser auf dem Marmorboden. Ich sah mit einem Auge die zitternden Sterne, mit dem anderen Auge sah ich meine Mutter, auch sie wusch den Frauen ihre Rücken, sie beteten und stöhnten, und das Badegewölbe hallte wider von ihren Gebeten und ihren ,och‘-sagenden Stimmen.“

Hier scheint noch einmal gebündelt auf, was die Themen der Özdamar sind: die Zuneigung der Frauen untereinander, das vergängliche Leben, der sichere Tod. Zwar kann man als Kind „den Tod mit Totspielen erschrecken“, aber er bleibt immerzu auf den Fersen, und die Heldin betet an allen Ekken und Enden des Buches für die Toten, immer länger wird ihre Liste der Toten, Listen wie Liturgien oder Litaneien. Sie betet für die Frauen und für die toten Soldaten und für den toten Molière. Das Gewicht des Todes wächst in dem Buch. Einmal fragt die Mutter die Tochter: „Hat ein Mensch mehr als seine süße Zunge?“, und die Tochter versucht einen Roman lang dies aggressiv und körperlich oder zögernd zärtlich zu widerlegen.

Emine Sevgi Özdamar: „Das Leben ist eine Karawanserei. Hat zwei Türen. Aus einer kam ich rein. Aus der anderen ging ich raus“. Kiepenheuer&Witsch 1992, 382 Seiten, 39,80DM.