: Psychobefreiungs- Dingsbums
Warum der Mensch auf textilfrei steht/ Nachruf auf einen sensationell sengenden Supersommer ■ Von Detlev Kuhlbrodt
Der Sommer geht vorbei. Entschlossen, obgleich er sich manchmal noch ein bißchen umwendet: Dann wird es plötzlich wieder heiß, ein paar Stunden am Nachmittag oder drei Tage. Wehmütig blicken die Nackten zurück. Viel gibt es zu erzählen: Zum ersten Mal seit Beginn der achtziger Jahre, als die Nackten den Englischen Garten in Beschlag nahmen, gab es wieder eine Diskussion übers Für und Wider des Sichausziehens. Die Diskussion beeindruckte: durch ihre Überflüssigkeit, durch ihr schönes L'art pour l'art, durch Beiträge jedenfalls, die wunderbar metaphorisch zu lesen waren. Denn wie zynischste Selbstironie klang es, wenn DDRlerinnen nicht reglementiertes Nacktsein als den letzten Punkt einklagen, in dem das Dasein im systematischen „Resozismus“ lebenswerter gewesen sei als im real existierenden Kapitalismus. Jenseits der metaphorischen Ebene gab es das wirkliche Geschehen. Im Sommer '92 trat in den neuen Bundesländern eine Badeordnung westlicher Prägung in Kraft. Im Gegensatz zu früher war nun das Nacktbaden überall da verboten, wo es nicht ausdrücklich erlaubt war. Der FKKler Wolfgang Weinreich vergaß nicht, in seinem Grundsatzartikel zum „Höschenkrieg“ in der Septembernummer des „Organs des Deutschen Verbandes für Freikörperkultur“ zu erwähnen, daß die westliche Badeordnung auf die „Polizeiverordnung zur Regelung des Badewesens vom 10.7. 1942“ zurückgeht und von Heinrich Himmler unterschrieben worden war. Er fügte an, „daß in Warnemünde die Einhaltung der Himmlerschen Verordnungen mit scharfen Hunden durchgesetzt werden soll“. Mit bewegendem Tremolo beendete der FKKler seinen Artikel: „Ich habe Angst.“
Viele Westlerinnen hatten diesen Sommer tatsächlich unangenehme Erlebnisse. Eine junge Journalistin etwa war von ihrem Urlaubsort auf Hiddensee entflohen. Am Strand alleine und ungestört lesen hätte sie nur gewollt, „da gesellte sich ein etwa 60jähriger zu mir. Zog sich einfach aus und fühlte sich wohl auch noch sehr sexy, wie er so hähnchenbraun auf seinem roten Handtuch saß. Ständig versuchte der, mit mir zu reden und fand das irgendwie wohl auch unverschämt, daß ich mich nicht ausgezogen hatte. Der war dermaßen aufdringlich, daß ich woanders hingegangen bin und den Schutz von anderen, in Badeanzug Badenden gesucht habe.“ Eine Westberliner Zoologiestudentin „ekelt“ sich einfach vor dem Fleisch und vor der geballten Körperlichkeit vieler Leute. „Das find' ich scheußlich. Das ist schon in der U-Bahn so. Das finde ich immer so würdelos und beschämend mit anzusehen.“ Und ein smarter Kommunikationsdesigner findet, „daß die Ostler sich ausziehen sollten. Nicht nur an ihren FKK-Stränden. Ich meine: die haben so schreckliche Kleidung, da sollen sie sich lieber gleich ausziehen.“ Er sagt das in einer Kreuzberger Yuppiekneipe. Seit ungefähr 45 Jahren ist der 92jährige Erich Funk beständiger Gast auf dem 50.000 Quadratmeter großen Gelände des Westberliner „Vereins für Körperkultur e.V. Südwest“. Seit den sechziger Jahren hat er hier seinen Wohnwagen stehen. Herr Funk ist gebürtiger Danziger. Die Arbeitslosigkeit trieb ihn in den zwanziger Jahren nach Südamerika. Drei Jahre lang lebte und arbeitete er dort. Mit großer Begeisterung erzählt er von seinen Erfahrungen als FKKler: „Wie ich von Amerika kam, hab' ich mir ein Motorrad gekauft und bin damit herumgefahren. Ich wollte eigentlich nach Freienwalde, doch in Finowfurt konnte ich nicht weiterfahren, weil da ein Umgang war. Da dachte ich: Gehste hier mal inne Kneipe rein und frühstückst da. Auf einmal wurde so schönes Wetter, und da sagte ich zu dem Wirt: ,Da hätte ich eigentlich 'ne Badehose mitnehmen sollen.' Da sagt er zu mir: ,Da brauchen Sie hier keine Badehose.‘ Als ich dann da war, kamen mir zwei Mädchen entgegen: die waren nackend.“ 1933 wurde die deutsche FKK-Bewegung zunächst zerschlagen. „Eine der größten Gefahren für deutsche Kultur und Sittlichkeit ist die sogenannte Nacktkulturbewegung“, hieß es im „Runderlaß zur Bekämpfung der Nacktkulturbewegung“ vom 3. 3. 1933. „Ich erwarte von allen Pol. Behörden, daß sie alle polizeilichen Maßnahmen ergreifen, um die sogenannte Nacktkulturbewegung zu vernichten.“ Vereine, die sich weigerten, Juden auszuschließen, wurden aufgelöst oder von den Nazis übernommen. Andere arrangierten sich, viele wurden verhaftet.
Unter ihnen befand sich auch Erich Funk: „Erst haben sie uns die Hosenträger abgeknappt, und dann mußten wir drei Stunden stehen mit Hände hoch. Ein Nazi sagte: ,Wat habt ihr denn da draußen gemacht?‘ Sagt der andere: ,Wir haben Blümchen gepflanzt.‘ Da hat der Nazi einen Knüppel genommen und ihm gleich über die Schnauze gehauen. Denn mußten wir uns nackend ausziehen, ob wir nicht krank sind oder wat. Die Wärter sagten: ,Warum sind's denn doa?‘ Und ich hab' gesagt: ,Ick bin unschuldig.‘ Da sagt der: ,Des glaub ich auch, aber nach 14 Tagen wird Ihnen die Birne abgehauen.‘ Ich hab' das noch schriftlich: ,Sie und der Jude Land sind die geistigen Urheber der Nacktkulturbewegung am Uelersee. Um Ihrem zersetzenden Treiben ein Ende zu bereiten, werden Sie bis auf weiteres in Schutzhaft genommen.‘“
Nach sechs Monaten Haft wurde Erich Funk wieder entlassen. In den fünfziger Jahren schloß er sich der bundesdeutschen FKK- Bewegung an. „Da war so ein Mädel, die sagte: ,Mensch Erich, komm doch wieder mal mit raus. Dir tut doch niemand was.‘ ,Na ja‘, sage ich, ,ich kann ja mal mitkommen.‘ Und dann hab' ich die alten Freunde alle wiedergetroffen, und denn war ich hier drin.“
Nicht nur am Strand ist der Mensch gerne nackt. Nacktheit funktioniert als Schreckmittel, mit dem protestierende junge Schülerinnen 1981 den damaligen Hamburger Bürgermeister Klose ärgerten. Sie dient aber auch dem Ausdruck großer Freude: Der greise Fußballtrainer Udo Lattek hat sich bei großen Siegen der Münchner Bayern auch schon mal all seine Kleider vom Leib gerissen.
In der Westberliner Szenekneipe „Kumpelnest 3000“ berichtet der Künstler und Initiator der „Tödlichen Doris“, Wolfgang Müller, von den Nacktheiten hauptstädtischen Nachtlebens: von dem Barkeeper, der sich seinen Traum erfüllte, indem er eine Schicht lang nackt hinter dem Tresen stand, oder von einem Kreuzberger, der unbekleidet durch die Berliner Kneipen zog. „Der hatte nur so ein Tigerfell-T-Shirt an, sonst war der ganz nackt. Der kam rein, als wenn er angezogen wäre. Er fing an, nackt rumzulaufen, weil er immer Angst hatte, die Leute würden sich auf ihn stürzen und ihn ausziehen. Deswegen konnte er nicht mehr mit der U-Bahn fahren. Das war für den so eine Art Psychobefreiungs-Dingsbums. Er hat damit angefangen, erst mal in kleinen Parks nackt rumzulaufen. Dann ging er in bestimmte Kinos, wo die Leute nicht die Polizei rufen. Und irgendwann rannte er in mehreren Kneipen herum. Was das Ganze jedenfalls so obszön gemacht hat: er tat so, als ob er angezogen wäre.“
Wenn man der Berliner Kulturwissenschaftlerin Gerburg Treusch-Dieter zuhört, muß das Nacktsein ziemlich kompliziert sein. Eine seltsame Verkehrung habe stattgefunden. Während früher „der proletarische Körper eine Provokation der Nacktheit darstellte gegenüber dem bekleideten Körper der Herrschenden, ist dieser proletarische Körper heute inzwischen das Ideal der Reichen geworden: gemildert um seine vielfältigen Verstümmelungen, sei es Buckligkeit, sei es Deformiertheit auf Grund unzureichenden Essens. In oberen Etagen jedenfalls findet man nur noch diesen Körper. Und damit verbindet sich dann die Bräune. Eine Bräune, die uns immer noch einmal den Dschungel simuliert, durch den man sich geschlagen habe, um an diese Position zu kommen.“
Die gestählten Körper der Macht schätzt die Soziologin nicht allzusehr. Viel interessanter auch als die nackten Körper am Strand findet sie die Frauenkörper in der Sauna oder „die Blicke auf Ausschnitte vom Körper, die ganz zufällig freigegeben werden. Wenn Studentinnen Referate halten und es rutschen ihnen ihre kleinen Hemdchen über die Schulter. Und sie merken es nicht, weil sie so aufgeregt sind. Diese Schultern, die meist noch etwas hölzern sind, wo man auch hin und wieder die Brustansätze sieht, die haben eine ganz seltsame Unschuld. Das ist wunderschön, da könnte ich mich verlieben und nur noch gucken. Manchmal vergesse ich dann fast, das Referat mir anzuhören.“
„Erst liefern sie uns die Pornos, und dann wollen sie uns das Nacktbaden verbieten“, beklagte man sich in der ostdeutschen Boulevardpresse. Für Gerburg Treusch- Dieter ist das nicht unbedingt ein Widerspruch, denn „aus westlichem Blick ist es gerechtfertigt, Pornos zu liefern. Diese Pornos genügen ja einem Design, das absolut vom Marketing abgetestet ist. Da ist man sicher: Man liefert pure Ware. Im Gegensatz dazu haben diese Ostkörper, die überhaupt nicht über unsere Warenästhetik sozialisiert sind, etwas ganz Eigenartiges, Unschuldiges. Und da sie nicht über Warendesign gestylt sind, werden sie als nicht zivilisiert unter Verdacht gestellt. Das ist eine Nacktheit, die plötzlich stört, weil sie nackter ist als die Nacktheit des Westens, die schon verpackt oder als Verpackung akzeptiert ist. Die — soll ich sagen Ossis? Ex-DDR-Bürger? — liegen ja auch richtig mit Familien und allen da an den Seen. Die haben da ihre Nestchen, und da kugelt und wuselt alles. Die unterhalten sich miteinander; das sind Nachbarschaftsverhältnisse von Handtuch zu Handtuch. Also all das, was genau nicht an unseren Nacktbadestränden stattfindet: dick, dünn, alt, jung, vom Baby bis zum Großvater liegen da halt beieinander, und man hat den Eindruck, der Körper wird überhaupt nicht bewertet.
Hier habe ich immer das Gefühl, ich muß den Bauch einziehen oder sonstwas machen. Im Osten gehst du rum und findest dich plötzlich okay.“
Es gibt allerdings nicht nur den Ost-West-, sondern auch den Geschlechtsunterschied. Bevor Gerburg Treusch-Dieter mit wehendem Haar davonbraust, gibt sie mir noch folgende Beobachtung auf den Weg: „Ganz eigenartigerweise unterscheidet sich selbst bei der routiniertesten Präsentation von Nacktheit das Geschlecht, was ja vor allem bei Männern zu sehen ist, immer noch vom Körper. Ich würde schwören: Jeder Frau geht es so, und ich würde sogar vermuten, jedem Mann. Aus irgendwelchen Gründen stellt dieses Geschlecht — was ja meistens baumelt, alles andere wäre peinlich —, eine seltsam abgetrennte Sache dar und ist nie zu integrieren in den Blick. Nicht weil man begehrlich guckt oder weil man guckt: Hat der einen großen oder einen kleinen? Nein: es ist irgendwie ein ganz primäres Moment, daß das Geschlecht nicht in den Blick integriert ist. Aus diesem Grund hat es immer etwas Peinliches. Selbst wenn da der reine Adonis daherkommt. Da vielleicht noch mehr als bei einem alten Mann, wo man weiß: Nun ja, Gott, für den ist das kein Problem mehr.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen