Stolpes O-Töne über die Ausreißer

■ In einem 1988 geschriebenen Brief bezeichnete Stolpe protestierende Ausreisewillige als „hysterische Antragsteller“

Potsdam/Bonn (adn/taz) — Die Serie belastender Dokumente, die Manfred Stolpes Rolle in der früheren DDR ausleuchten, reißt nicht ab. In den Akten des Schalck- Ausschusses ist jetzt ein Brief aufgetaucht, in dem Stolpe seine Forderung nach einer zeitlich befristeten Bearbeitung von Ausreiseanträgen mit äußerst abfälligen Charakterisierungen ausreisewilliger DDR-BürgerInnen garniert. In dem Schreiben an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, vom 10. Februar 1988 spricht Stolpe von „hysterischen Antragstellern“, die er als „Haupt-Unruhe-Potential“ für die DDR-Gesellschaft einschätzt. Stolpe bezieht sich auf die Proteste Ausreisewilliger am Rande der Luxemburg- Liebknecht-Demonstration am 17.Januar 88 in Berlin: „Das Schlimmste der letzten Wochen“, so Stolpe an Gysi, „waren meine Erlebnisse mit hysterischen Ausbürgerungsantragstellern.“ Auf 200 bis 300 Personen schätzt Stolpe das „Haupt-Unruhe-Potential“, für das eine schnelle Entlassung aus der Staasbürgerschaft angezeigt sei: „Eine Liste füge ich bei.“

Für den Umgang mit den weniger Hartnäckigen schlägt Stolpe eine zeitliche Befristung der Antragsbearbeitung vor. Dauer: ein Jahr für die grundsätzliche Prüfung, zwei Jahre Barbeitung für relativ problemlose, zwei weitere Jahre für kompliziertere Fälle.

Mit seinem Vorschlag stützte Stolpe implizit die Auffassung der DDR-Führung, über den Ausreisewunsch von DDR-BürgerInnen willkürlich entscheiden zu dürfen. Kriterien für einen Anspruch auf Ausreise formuliert er nicht. Lediglich die Verschleppungswillkür bei der Bearbeitung von Anträgen wäre mit Stolpes Vorschlag beendet worden, was sich durchaus als pragmatisch-realistischer Vorschlag zur Entkrampfung der Situation interpretieren läßt.

Brisanter sind Stolpes Charakterisierungen derjenigen Ausreisewilligen, die Anfang 89 nicht länger bereit waren, die Willkür des Staates widerstandslos hinzunehmen. Was aus deren Perspektive geeignet schien, ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, wertet Stolpe als Bedrohung der Ordnung und Ausdruck eines psychischen Defektes.

Der jetzt aufgetauchte Brief läßt auch keinen Raum für quellenkritische Studien. Die Unterstellung willkürlicher Stasi-Verfälschungen, mit denen der Wahrheitsgehalt der Gauck-Unterlagen von den Stolpe-Verteidigern bestritten wird, greift nicht. Der Brief an Klaus Gysi ist O-Ton Stolpe. Damit gewinnen auch die von Stolpes Führungsoffizieren wiedergegebenen Äußerungen der Quelle IM Sekretär — in Form und Inhalt — neue Plausibilität. eis