„IM Sekretär“ auf Weltniveau

■ Neue Dokumente: Stolpe lieferte der Stasi Berichte über die Pläne der Bundesregierung

Berlin (taz) — Neue Unterlagen belasten Brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD). Der frühere Oberkonsistorialrat hat seine kirchlichen Kontakte zu Vertretern der westdeutschen Kirchen und Parteien auch genutzt, um dem Ostberliner Geheimdienst Einschätzungen und Interna der Bonner Regierungspolitik mitzuteilen. Das geht aus den umfangreichen Unterlagen hervor, die die Gauck-Behörde dem Postdamer Untersuchungsausschuß übergeben hat und die der taz vorliegen.

Unter der Quellenangabe „IM Sekretär“ vermerkte etwa am 13.Dezember 1982 der Stasi-Oberstleutnant Joachim Wiegand: „Es bestehe bei Kohl die feste Absicht, die Rüstungsverträge und die mit der Regierung der USA ausgehandelten Abkommen zur Raketenstationierung einzuhalten. Das erzeuge in der BRD Widerstand, der mit allen Mitteln niedergehalten werden solle.“ Die Information aus dem Kanzleramt geht dem Stasi-Protokoll zufolge auf ein Gespräch des Beauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland, Prälat Binder, zurück, die dieser in einem vertraulichen Gespräch geäußert haben soll.

Ministerpräsident Stolpe hat eingeräumt, von der Stasi als „IM Sekretär“ geführt worden zu sein, allerdings ohne davon gewußt zu haben. Unter der Überschrift „Meinungen zur politischen Situation der Regierung der BRD“ ist weiter vermerkt, daß Kohl im Vorfeld der Bundestagswahlen im März 1983 fest mit seiner Wiederwahl als Kanzler rechne. Personell setze Kohl vor allem auf die CDU-Politiker „Stoltenberg, Barzel und Jenninger“, die „absolut fest zu ihm stünden und ,Zieher‘ wären. Hinzu käme Strauß, der potentieller Nachfolger für Außenminister Genscher sei.“

IM Sekretär berichtete über seinen Führungsoffizier an die Staats- und Parteiführung der DDR, daß Kohl nach dem Bonner Machtwechsel „keine außenpolitischen Änderungen (beabsichtige), auch der DDR gegenüber nicht“. Er wolle an den Verträgen mit der DDR festhalten „und sie realisieren“. Kohl „erhoffe sich außerdem indirekte Wahlhilfe durch ein weiteres Vorantreiben eines Kulturabkommens und durch mehr sachlich und weniger scharfmacherisch gestaltete Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten“. Der Prälat Binder, so übermittelte IM Sekretär der Stasi, habe auch aus Gesprächen mit führenden Regierungsmitgliedern entnommen, „daß innenpolitisch eine härtere Gangart eingeschlagen werden solle“.

In den Unterlagen des Untersuchungsausschusses befinden sich zahlreiche weitere Unterlagen, in denen unter der Quellenangabe „IM Sekretär“ über vertrauliche Gespräche von Regierungsmitgliedern und Bonner Spitzenpolitikern mit Würdenträgern der evangelischen Kirchen berichtet wird. Die Aufzeichnungen der Stasi enthalten unter anderem Berichte von 1979 über die Haltung der Bundesregierung unter Kanzler Schmidt zur Frage der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik, zum Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980 und über die Kontakte des Altbundeskanzlers Willy Brandt zum Generalsekretär der KPdSU, Breschnew.

Das MfS maß diesen Informationen offensichtlich einen hohen Stellenwert zu. Etwa die Hälfte der Berichte wurden der „Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe“ des MfS zur Auswertung übergeben, ein Teil gelangte dem „Genossen Minister“ Erich Mielke direkt zur Vorlage.

Die Serie belastender Dokumente, die Stolpes Rolle ausleuchten, geht aber noch weiter. In den Akten des Schalck-Ausschusses ist jetzt ein Brief von ihm an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, vom 10. Februar 1988 aufgetaucht. Stolpe schätzt darin die AntragstellerInnen auf Ausreise als „Haupt-Unruhe-Potential“ für die DDR-Gesellschaft ein. Stolpe bezieht sich auf die Proteste Ausreisewilliger am Rande der Luxemburg- Liebknecht-Demonstration im Januar 88: „Das Schlimmste der letzten Wochen waren meine Erlebnisse mit hysterischen Ausbürgerungsantragstellern.“ Deren schnelle Entlassung aus der Staasbürgerschaft sei angezeigt: „Eine Liste füge ich bei.“ wg/eis SEITE 4