Lied und Leid (Teil 1)

von Detlef Diederichsen

Muß ich leiden, um etwas Schönes zu schaffen? Nö! Denkste! Mir kann's auch blendend gehen, ich kann sogar ein Arschloch sein, ein zufriedenes Charakterschwein sozusagen, und dennoch das Talent besitzen, Kunst zu machen.

Es ist eines der ekelhaftesten Mißverständnisse in der Welt der Kunstbetrachtung, daß nur wer „durch die Scheiße geht“ dauerhafte Werke schaffen kann. Role models wie Charlie Parker, Franz Kafka, Brian Wilson, u.v.a. sind die Ursache.

So kannte ich einen jungen Mann, der war unzufrieden mit den Früchten seiner Kreativität. Er verglich sich mit seinen Vorbildern und fragte sich: Was ist es, das sie haben, und ich nicht? Die Antwort, die er sich gab, war: Blut, Herz, Leidenschaft, Leiden, Leben. Also schor er sich den Kopf kahl, ließ sich einen exzentrischen Bart wachsen und begann wild und gefährlich zu leben. Er arbeitete nacheinander als Leichtmatrose, Leichenwäscher und Drogenkurier. Kürzlich hörte ich seine neue Platte: so fade wie eh und je. Ich weiß nicht, ob er es mittlerweile auch akzeptiert, aber die Lehre aus seinen Eskapaden ist wieder mal: Ich kann für meine Schöpfungen keine lebensspendenden Injektionen erkaufen, auch nicht mit Blutopfern.

Weil das aber anscheinend weder selbstverständlich ist, noch sich bisher in den betroffenen Kreisen herumgesprochen hat, werden sich weiterhin Mittelklasse-Kids aus Bietigheim-Bissingen oder Rothenburg ob der Wümme wünschen, die heimische Fußgängerzone wäre Bürgerkriegsgebiet, es herrschten Zustände wie man sie ihnen aus der South Bronx geschildert hat oder wie sie es während der Aufstände in Los Angeles auf dem Bildschirm zu Hause gesehen haben. Rocksänger im ersten Lehrjahr werden weiterhin ihre blütenreine Stimme verstellen, bis sie klingt als sei sie von den fettesten Stimmbandpolypen besiedelt; sie werden Whisky trinken, Scheuersand und Rasierklingen frühstücken, in der Hoffnung, man möge auch in der Zukunft rauhen Gesang mit sexy Lebenserfahrung gleichsetzen.

Wobei ich ja denke, daß unsere Poller-bewehrten Fußgängerzonen, Grünflächen und Naherholungsgebiete genug Stoff bieten, um einen Blues zu singen, der so existenziell tieftraurig ist, daß sogar ein Jürgen Möllemann oder ein Hennig Voscherau in seinem Innersten berührt würde.

Diesen Blues hat noch keiner gesungen. Aber er ist da! Er wartet auf euch dort draußen, gleich vor eurer Tür! Holt ihn euch!