Knallt und raucht

■ „Faust II“ bleibt in Wuppertal zu flach

Kurz vor Vollendung des Stückes, das erst sieben Wochen später endgültig fertiggestellt sein sollte, teilte Goethe einem Freund den tieferen Sinn seines Schaffens mit: „Damit alles zusammen ein offenbares Rätsel bleibe, die Menschen fort und fort ergetze und ihnen zu schaffen mache“, habe er der Faust-Tragödie zweiten Teil so gestaltet, schrieb der Geheimrat am 1.Juni 1831 an den befreundeten Berliner Bauunternehmer und Komponisten Karl Friedrich Zelter. Und so ist der Tragödie zweiter Teil im Jahre 1833 schließlich als erster Band der „Nachgelassenen Werke“ Goethes veröffentlicht worden.

Der Wuppertaler Generalintendant, Holk Freytag, scheint sich diese Offenbarung zu Herzen genommen zu haben. Zu schaffen macht seine „Faust II“-Inszenierung, mit der die Wuppertaler Bühnen die neue Spielzeit eröffneten, allein schon durch ihre schiere Länge. Inhaltlich allerdings bleibt sie zu harmlos. Fünf Stunden lang hetzen Faust und Mephisto durch Moderne und Antike, über die Welt und durch das Meer. Und auch in Sachen Ergötzung hält sich Freytag sorgsam an die Vorgaben seines Autors — zu sorgsam: Die Hofszene ist eine Prunksitzung des Kölner Karnevals mit Prinzengarde und Funkenmariechen. Der Kaiser und sein Kabinett residieren als närrischer Elferrat. Und Bühnenbildner Wolf Münzer hat — damit nur ja jeder und jede das Bild versteht — einen meterhohen Hampelmann in demonstrativem Schwarzrotgold entworfen.

Nette Ideen, die für Aufsehen sorgen — für inhaltliche Auseinandersetzung aber wohl kaum. Dafür hat die Special-effects-Abteilung des Wuppertaler Schauspielhauses alle Hände voll zu tun: Als Plutus fährt Faust im Rolls Royce auf die Bühne; den bei Goethe maßgeblichen philosophischen Dialog zwischen Anaxagoras (Jörg Reimers) und Thales (Dietmar Bär) bringen auf der Wuppertaler Bühne Karl Marx und Charles Darwin im Rekordtempo hinter sich.

Unterdessen knallt und brennt und raucht es an allen Ecken und Enden. Gleich der Muppet-Show ist die Bühne, auf der sich Bild an Bild reiht, in ständiger Bewegung. Die laute Grelle der Freytag-Münzer-Ideen decken rücksichtslos auch die leisen Bilder zu: Als altes Ehepaar aus dem Elternbild von Otto Dix läßt der Regisseur Philemon und Baucis auf dem Sofa sitzen. Nur Augenblicke später müssen aber auch sie in einer spektakulären Stichflamme verschwinden. Freytag traut der Kraft dieser zu seltenen subtilen Bilder selbst nicht.

Bei aller Effekthascherei bleibt kaum Zeit für geistigen Tiefgang. Goethes letzter Versuch, die Welt an der Schwelle zum Industriezeitalter mit den Mitteln des Theaters zu erklären, findet vor allem in den Dialogen des „Faust II“ statt. Die scheinen in der Wuppertaler Inszenierung zu oft nur Nebensache zu bleiben. Das gesamte Ensemble spannte der Intendant für seine Mammutproduktion ein, deren erster Teil in der vergangenen Spielzeit die meistgesehene „Faust“- Inszenierung an deutschen Bühnen war. Einzig Bernd Kuschmann als Faust und Volker Niederfahrenhorst als Mephisto aber sind in ihren Rollen ständig sinnlich präsent.

Er wolle dem Publikum die Angst vor dem „Faust“ nehmen, hatte Holk Freytag in einer Matinee sein theaterpädagogisches Selbstverständnis definiert. Der demokratische Anspruch ehrt den Intendanten. In seiner Popularisierung bleibt vom „Faust“ allerdings noch soviel Goethe übrig wie von Mozart in einer „Krönungsmesse“ bei James Last. Stefan Koldehoff

Nächste Aufführung: 31. Oktober