»Die Medien sollten die Politiker treten«

■ Über Deutschland und die Deutschen sprach Bahman Nirumand mit der indischen Journalistin Roshan Dhanjibhoy. Sie lebt hier seit den sechziger Jahren

Bahman Nirumand: Roshan Dhanjibhoy, wie sehen Sie die Deutschen?

Roshan Dhanjibhoy: Eine schwierige Frage, zumal jede Verallgemeinerung unzulässig ist. Als ich nach Deutschland kam, waren die ersten Wunden der Nachkriegszeit geheilt. Die Deutschen saßen da, schauten auf ihren Nabel. Es ging ihnen weitaus besser als den Engländern und Franzosen, den sogenannten Siegern des Zweiten Weltkrieges. Ich hatte den Eindruck, daß die Deutschen die eigene Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis gelöscht, daß sie sie verdrängt hatten. Wenn man sie darauf ansprach, gab es zumeist Distanzierungen, als wären die Nazis aus dem Himmel gefallen. Dieses Nicht-annehmen-Wollen der eigenen Geschichte betraf einen Teil der Deutschen. Der andere Teil vollzog einen absoluten Bruch mit der eigenen Identität. Hier, finde ich, liegt der Hund begraben. Der Deutsche weiß nicht, wer er ist. Im Radio wird den ganzen Tag englisch gesungen. Die deutsche Sprache ist voll mit englischen Wörtern. Wenn das in Frankreich geschehen wäre, würde die Akademie auf die Barrikaden gehen. Hier kümmert sich keiner darum.

Dabei wirft man doch den Deutschen einen starken Hang zum Nationalismus vor.

Die Deutschen konnten sich erst sehr spät oder im Grunde nie zu einer einheitlichen Nation zusammenschließen. Auch die Demokratie kam sehr spät in dieses Land. Sie hat bis heute keine tiefen Wurzeln gefaßt. Das eigentliche Problem der Deutschen liegt in der permanenten Identitätskrise. Das führte dazu, daß die Deutschen, besonders nach dem Weltkrieg, sich selbst bemitleideten. Bei anderen führte diese Geschichte sogar zu einem Selbsthaß. Ich erinnere mich, wie die deutschen Intellektuellen in den sechziger und siebziger Jahren ständig mit Klagen über Deutschland und die Deutschen herumliefen. Man mußte sie trösten und ihnen sagen: „So schlimm seid ihr doch nicht.“ Es war die reinste Selbstverachtung. Psychologisch betrachtet, impliziert diese Selbstverachtung einen Versuch der Rechtfertigung. In den achtziger Jahren wendete sich allmählich das Blatt.

Diese Selbstverachtung, von der Sie sprechen, gilt doch nicht für jüngere Generationen, auch nicht für die normalen Bürger. Diese Generationen, vor allem die aus dem Westen Deutschlands, haben doch viele Gründe, auf ihr Land stolz zu sein.

Ja, trotzdem laufen die Deutschen ständig mit einer unterschwelligen Angst herum; es fällt ihnen schwer, sich zu der eigenen Nation zu bekennen. Fünfzig Jahre sind keine lange Zeit. Auch die Nachbarn begegnen den Deutschen mit einem warmen Händeschütteln, aber auch immer mit einem wachen Auge, weil sie diesem Homo teutonicus, der jetzt wieder loszubrechen scheint, nicht trauen. Sie betrachten die Einheit als einen kolonialen Überfall.

Ist das, was man typisch deutsch nennt, trotz unterschiedlicher Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, bei den Ossis nicht gleichermaßen wie bei den Wessis anzutreffen?

Erstaunlicherweise doch. Zum Beispiel ist auf beiden Seiten eine typische Unsicherheit zu beobachten, die mit Hilfe einer Überheblichkeit verschleiert wird. Auch in der Grundeinstellung zum Leben, sogar im täglichen Verhalten, kann man Gemeinsamkeiten feststellen. Nicht nur die Westdeutschen, auch die Ostdeutschen haben doch viel zustande gebracht. Man vergißt oft, daß die DDR als Industrieland unter den Nationen der Welt an siebter Stelle stand. Die Deutschen sind gute Erfinder, gute Organisatoren, sie sind tüchtig und zuverlässig. Aber sie sind unflexibel, verschlossen und oft unfähig, andere zu verstehen, auf andere einzugehen. Daher haben sie es schon immer schwer gehabt mit Ausländern. Entweder fallen sie mit ihrer Überschwenglichkeit über einen her, vor allem wenn man aus Indien kommt und die ganze Guru- Tradition mit sich trägt. Sie wollen in wenigen Minuten erfahren, wie man die eigene Seele retten, wie man Ruhe gewinnen und das Nirwana erreichen kann. Oder sie belehren einen. Ein anderer Aspekt ist der Mangel an Zivilcourage. Der Deutsche, der allein ist, verhält sich in den meisten Fällen wie ein Feigling. Als ich hier neu beim Fernsehen anfing, drehten wir in einem Lokal in Düsseldorf. Ein Betrunkener kam auf mich zu, packte meinen Sari und rief: „Diesen Fetzen, den Sie tragen, haben wir bezahlt.“ Und er begann, mich zu beschimpfen. Keiner der im Lokal anwesenden Gäste griff ein, alle schauten zu. Schließlich kam der Kameramann zu Hilfe.

Was würden Sie sagen, wenn Sie das typisch Deutsche in wenigen Worten beschreiben wollten?

Überheblich, ängstlich, tendierend zu Extremen, entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, zu Selbstmord neigend, unfähig, andere Mentalitäten zu verstehen.

Haben Sie bei den Deutschen nichts Positives entdeckt?

Selbstverständlich. Es ist zwar schwer, zu den Deutschen Zugang zu finden. Aber wenn man soweit ist und mit ihnen Freundschaft schließt, sind sie Freunde fürs Leben. Sie sind sehr treu. Ich bewundere ihre Anstrengungen, von ihrer Geschichte wegzukommen. Ich meine zwar nicht, daß sie die Vergangenheit verarbeitet haben, aber die demokratischen Formen, die sie übernommen haben, funktionierten bisher ganz gut. Ich bin gespannt, ob sie auch der gegenwärtigen Krise standhalten. Ich bewundere auch die Ordnungsliebe der Deutschen, aber nur zum Teil. Oft ist sie mir zu lästig. Ich habe viel von den Deutschen gelernt, zum Beispiel, wie man eine Arbeit organisiert. Was mir bei den Deutschen fehlt, ist die Unfähigkeit zum Selbstspott. Die Deutschen können nicht über sich lachen.

Haben Sie angesichts der gegenwärtigen Entwicklung in Deutschland die Befürchtung, daß sich die Geschichte wiederholen könnte?

In letzter Zeit habe ich oft diese Assoziationen. Ich meine nicht, daß sich die Geschichte des Nationalsozialismus und Faschismus wiederholen könnte, aber etwas Ähnliches könnte uns erwarten. Wenn ich sehe, wie ausländische Kinder getreten und Flüchtlingsheime mit Brandsätzen beworfen werden, mit der Absicht, die Insassen zu töten, und wenn ich sehe, wie Polizei und Justiz auf diese Verbrechen reagieren, als handele es sich um den Diebstahl eines Badelakens bei Hertie, und wenn ich beobachte, wie sich die Bevölkerung, die Parteien und die Regierung zu alldem stellen, dann wird es mir bange. Schauen Sie die Medien an. Sie führen all die Gewalttaten auf die Arbeitslosigkeit zurück. Sie sollten statt dessen die Politiker treten. Aber das tun sie nicht, dazu fehlt die Courage.