»Totaler Krieg« in Türkisch-Kurdistan

Über 200 Tote nach Attacke der PKK/ Türkische Politiker setzen auf Militär  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Minutenlang sendete der staatliche türkische Fernsehsender TRT Bilder von Leichen. Nahaufnahmen zeigten zerschossene Körper, die ordentlich nebeneinandergelegt worden waren. Zuweilen schwenkte die Kamera auf die türkische Flagge, die neben der ausgebrannten Militärkaserne in Derecik wehte. Begleitet wurden die blutigen Szenen von Jubelstimmung in den Interviews mit türkischen Politikern, Offizieren und Soldaten. Die Medienshow sollte der Bevölkerung den „großen Schlag gegen die PKK“ vorführen.

Rund 500 Partisanen der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) hatten am Dienstag morgen die Militärkaserne Derecik, nur zwei Kilometer von der türkisch-irakischen Grenze entfernt, angegriffen. Die Partisanen der PKK rückten mit Raketenwerfern und Mörsern gegen das Militärlager nahe des bergigen Länderdreiecks Iran- Irak-Türkei vor. Laut amtlichen türkischen Angaben wurden im Zuge der Kämpfe über 200 „Terroristen“ getötet. 28 Soldaten seien ums Leben gekommen. Die Europavertretung der PKK spricht dagegen von 350 getöteten Soldaten und von zehn Dorfschützern, die ebenfalls in der Reihen der türkischen Armee kämpfen. Nur 18 Partisanen seien getötet worden. Die PKK kündigte an, sie werde Videoaufnahmen von den Kämpfen um Derecik zeigen.

Unstrittig ist, daß in Derecik die bislang größte Attacke der PKK stattgefunden hat und die meisten Menschenopfer innerhalb eines Tages zu beklagen sind. Die PKK kämpft seit 1984 für ein unabhängiges Kurdistan. „Derecik gleicht einem Leichen- und Waffenfeld“, schreibt der Korrespondent der türkischen Tageszeitung Hürriyet, einer der wenigen vom türkischen Militär auserwählten Journalisten, die per Helikopter nach Derecik eingeflogen wurden. Mehrere Dutzend Leichen wurden den Journalisten vorgeführt. Cobra- Helikopter hatten PKKler verfolgt. Türkische Offiziere behaupten, daß die meisten getöteten Partisanen auf nordirakischem Territorium liegen. Ministerpräsident Demirel sprach am Mittwoch von mindestens 174 toten „Terroristen“. Die Zahl werde steigen.

Türkische Politiker und Militärs haben Derecik zum Wendepunkt erklärt. Vor seiner „Partei des rechten Weges“ sagte Demirel: „Wir werden dieses Land nicht einer Mörderbande überlassen.“ Gegen Terroristen helfe nur „Verteidigung mit Waffengewalt. Die Türkei ist einem Angriff ausgesetzt. Gäbe es eine politische Lösung, hätte es sie in den vergangenen neun Jahren gegeben.“

Die Toten von Derecik passen in die politische Linie, die Demirel in der Kurdenfrage eingeschlagen hat. Die Liberalisierungsversprechen seiner Regierung bei ihrem Amtsantritt im November vergangenen Jahres sind längst vergessen. Zunehmend greift Demirel auch Kreise an, die eine politische Lösung anstreben. Die „Lösung der Kurdenfrage“ ist in die Hände der Militärs gelegt, die auf „Vernichtung“ und „Ausmerzung“ der PKK setzen. Ganz undiplomatisch offenbart der türkische Generalstabschef Dogan Güres in einem Interview mit der Tageszeitung Milliyet die Zielsetzung: „Wir sind mit der Regierung in Kontakt wegen der Vorbereitung eines totalen Kampfes.“

Vergangenen Freitag trat der „Nationale Sicherheitsrat“, in dem neben dem Staatspräsidenten, dem Ministerpräsidenten und zentralen Ministern ranghohe Generäle vertreten sind, zu einer Sitzung zusammen. Obwohl laut Verfassung der „Nationale Sicherheitsrat“ nur eine beratende Funktion hat, ist er längst zu dem staatlichen Organ geworden, das die Kurdenpolitik festlegt. Die Militärs geben dort den Ton an. In der Erklärung vom vergangenen Freitag forderte der Sicherheitsrat Maßnahmen gegen „einige Massenverbände und Medien, die die „Einheit des Landes und den unitaren Charakter des Staates gefährden“. Die Istanbuler Zeitung Özgür Gündem, die als einzige Tageszeitung eine freie Berichterstattung über Türkisch- Kurdistan fortsetzt, und die legale, prokurdische „Arbeitspartei des Volkes“, HEP, die auf einen politischen Dialog mit der PKK setzt, sind insbesondere Feindbilder der Militärs. Wie auf Knopfdruck des Sicherheitsrates wurden vergangenen Montag elf führende Funktionäre, unter ihnen der ehemalige Vorsitzende der Partei, Feridun Yazar, festgenommen.