■ Der neue Koloß Deutschland ist für die ItalienerInnen Alptraum und Vorbild zugleich: Wo die Effizienz und der wirtschaftliche Reichtum des Nachbarn bewundert werden, wird der Mangel an geistiger Beweglichkeit und Phantasie eher bedauert
: Zwischen Systematik und kreativem Chaos

Vielleicht hat alles im Juli vor zwei Jahren begonnen, im Olympiastadion von Rom. Das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft war im Gange, das Argentinien des haß-geliebten Maradona spielte gegen das Deutschland des Lothar Matthäus. An diesem WM-Abend, an dem die erhebende Hymne eines Deutschlands erklang — das nicht mehr nur eines war, sondern zwei, und das auch gespielt hatte, als wäre es doppelt vorhanden — an diesem Abend war es vielleicht, daß den Italienern erstmals ernsthaft Bedenken wegen des deutschen Kolosses kamen.

Es hat schon beeindruckt, wie da von den Rängen herab, mit Unterstützung der Stiefelabsätze auf dem Zement, rhythmisch das „Deehh“ klang, Anfangsbuchstabe für jenes Deutschland, das möglicherweise wieder „über Alles“ sein wollte. Irgendwie war es doch symbolisch, wie man nach den Freudentränen über den Fall der Berliner Mauer nun plötzlich in der Niederlage Argentiniens auch eine Niederlage des Südens erlebte, und so kamen leise Zweifel auf, wo das alles einmal enden werde.

Wie unersättlich, dieses Deutschland: reich ist es, stark, sicher, mit einer pünktlichen Eisenbahn und sauberen Straßen — aber nun auch noch „unser“ Weltmeisterschaftspokal in der Wohnstube des Helmut Kohl... Irgendwie hatten wir damit schon die Wiedervereinigung, die echte, die dann drei Monate später offiziell erfolgte, im voraus zu sehen bekommen. Freilich hieß es damals noch, daß ein Land von dieser Potenz den nun glücklichen Zwillingsbruder leichthin assimilieren, in sich aufnehmen werde, sich aufgrund geheimnisvoller, alchimistischer Kräfte verdoppeln werde, weiter nichts. Doch gleichzeitig hörten wir wieder alte Gemeinplätze, urzeitliche Antipathien.

Stereotype und banale Bilder vermischten sich mit einem Fatalismus und einem unbewußten Optimismus über den Ausgang dieses schwierigen Prozesses. Nur wenige, isolierte, denkerische Köpfe der Linken behaupteten, daß diese Wiedervereinigung nicht ohne Schmerzen und Traumata vor sich gehen könne. Das vorherrschende Denken aber war und blieb — bis vor wenige Wochen —, daß die wirtschaftlichen und kulturellen „Kosten“ der Wiedervereinigung sich innerhalb des gleichzeitig bedrohlichen und soliden, Sicherheit gebenden Giganten abwickeln ließen.

Es war die erneute Bestätigung all der Widersprüche, die wir Italiener gegenüber dem deutschen Nachbarn empfinden. Der Mythos der Effizienz — der Spruch „du scheinst ja fast ein Deutscher“ ist das Synonym für Präzision und Pünktlichkeit — durchmischt sich mit der Aura mangelnder Phantasie und blindgehorchendem Ordnungssinn. Das Schimpfwort für einen Touristen aus dem Norden (gleichgültig ob Schwede, Finne oder Deutscher) lautet „Crucco“ und ist unübersetzbar, enthält aber gleichwohl die Gesamtheit aller positiven wie negativen Einschätzungen für die Germanen: Entschiedenheit, wirtschaftlicher Reichtum, aber auch Mangel an geistiger Beweglichkeit und Phantasie, körperliche Zähigkeit, Tendenz zum Übermaß beim Saufen und Fressen, dazu arischen Gesundheitsfimmel, der Wille, sich „nicht hereinlegen zu lassen“.

Während der Manager von „deutscher Systematik“ träumt, rühmt der kreative Mensch das italienische Chaos. Die Tatsache, daß das Klischee der Deutschen so ziemlich genau die Gegensätze zu den über Italiener verbreiteten Vorurteilen bietet, führt gleichzeitig zu zahlreichen Gewißheiten wie ebensoviel Durcheinander. Man denke nur daran, wieviel die politischen und kulturellen Denkschulen aus Deutschland in den 60er und 70er Jahren dem Ausland gegeben haben; ohne die deutschen Grünen und das neue Kino wäre vielleicht Italien heute noch ganz anders. Umgekehrt behaupten aber auch viele, daß ohne die deutsche RAF auch die italienischen Roten Brigaden, die bleiernen Jahre anders gewesen wären.

Die kulturellen und auch die wirtschaftlichen Interaktionen des Denkens verschiedener Länder und dort wiederum verschiedener Gruppen über die Grenzen hinaus verschaffen den Ländern in der Regel eher Vor- denn Nachteile; wer nur die „Verunreinigung“ sieht, erkennt nicht, wieviel die einzelnen Völker für das Wachstum der jeweils anderen bedeuten. Allerdings wird letztere Erkenntnis dann mitunter wieder leicht überstrapaziert, wenn plötzlich fast alle unseren Exportgüter nicht mehr von uns ausgetüftelt sein sollen, sondern ihren Ursprung jenseits der Alpen haben sollen.

Die jungen Skinheads in Deutschland, die Immigranten verprügeln, werden von ebenso jungen Kahlköpfen aus dem reichen rassistischen Veneto ebenso kopiert wie im proletarischen Rom, und geben umgekehrt wieder Anschübe in den Norden weiter: ein Alptraum. In den Zeitungen rückt Deutschland jeden Tag näher — und keineswegs gemütlich: die Mark, die die Lira unterbuttert, der „Panzer“ Bundesbank, die erbarmungslosen Hüter der germanischen Währung. Ein grausamer Partner also, voller Machtanmaßung, der nun die Rechnung seiner übereilten, zehrenden Vereinigung diesem Europa präsentiert, das seiner eigenen Dummheiten in den 80er Jahren wegen in die Knie gegangen ist.

Und doch sehen viele bei uns, trotz all der Angst, Deutschland als „das“ Modell schlechthin an, das man nachahmen sollte. Nicht zufällig sind die Deutschkurse der Goethe-Institute überbelegt. Die Stereotype des WM-Stadions kann man vielleicht abbauen. Doch das alleine bedeutet noch nicht, daß es auch zu einem gegenseitigen Verständnis unserer beiden Länder kommen wird — ja nicht einmal zu einer konstruktiven Bearbeitung des gegenseitigen Mißtrauens dieser beiden Völker, die einander niemals wirklich freundlich gegenübergestanden haben. Raffaella Meneghini, Rom