„Ich wollte nie Durchschnitt sein“

■ Nulifer Kocs Leben als Grenzgängerin zwischen den Kulturen Kurdistans und Deutschlands

Nulifer KocFoto: Katja Heddinga

Kurdistan, das ist draußen Spielen in den Bergen zur Zeit der Schneeschmelze und die Erinnerung an die Großmutter. „Sie war groß und geheimnisvoll, hatte einen aufrechten Gang und hat nie gelacht“, erinnert sich Nulifer Koc an die ersten Jahre ihrer Kindheit. Hoch angesehen war die Großmutter in der Familie: Wenn die Männer über Fragen der Wirtschaft des Bauernhofes sprachen, war sie immer dabei. Ihr Wort zählte, sie hatte ein „klares Konzept“.

Heute ist Nulifer (23) Studentin an der Bremer Uni und AStA-Vorsitzende. Ihr Weg aus einem kurdischen Dorf an der Grenze zu Aserbaidschan in die Bremer Seminar- und AStA- Räume ist voller Widersprüche und Kämpfe, eine Suche nach einer Identität zwischen Kurdistan und Deutschland, zwischen zwei Kulturen, die voller Widersprüche sind, aufeinanderprallen und doch in einem Leben Platz haben wollten.

Im März 1969 wurde sie geboren. „Der Tag ist nicht so wichtig, die Freude über ein Mädchen hielt sich ohnehin in Grenzen.“ Ihr Vater arbeitete damals schon in Bremen. „Er kam einmal im Jahr zu Besuch, und immer, wenn er sagte, daß wir alle nach Deutschland fliegen würden, habe ich in die Wolken geguckt und gedacht: Da liegt Deutschland.“

Deutschland liegt nicht in den Wolken. Das bekommt die siebenjährige hier nach ihrer Ankunft schnell mit: Sie spricht kein Wort deutsch und soll gleich in die zweite Klasse gehen. Sie ist unter den deutschen Kindern eine Fremde, und sogar unter den türkischen hat sie es schwer: Sie gilt als „wilde Kurdin aus den Bergen.“

Zwei Leben werden das: In der Schule lernt sie deutsch und besucht auch ihre Freundinnen am Nachmittag, zuhause wird weiter kurdisch gesprochen und die Erinnerung gepflegt. ‘Das Schönste ist die Heimat', haben ihre Eltern gesagt, „und das hat es mir schwer gemacht, mich mit dem neuen Land, in dem ich lebte, anzufreunden.“

Für ihre Familie ist sie die „Pufferzone“, an der sich Kurdistan und Deutschland treffen. Alles, was mit dem Leben außerhalb der Familie zu tun hat, läuft ausschließlich durch ihre Hände, sie ist die Grenze zwischen zwei

hier bitte das

Frauenportrait

Welten und weiß nicht, wohin sie gehört.

Sie beginnt, die traditionellen Rollenmuster, die sie zuhause umso mehr übernehmen soll, je älter sie wird, zu hinterfragen. Das beginnt mit dem Kampf um halbärmlige T-Shirts und gegen das traditionelle Kopftuch (“Ich will mich als Frau nicht verstecken“). Später, als sie 15 Jahre alt ist, wird sie dann gegen den Willen ihrer Eltern auch ihre Haare schneiden lassen. „Mein Vater hat eine ganze Zeit lang nicht mit mir gesprochen“, erinnert sie sich, aber durchgesetzt hat sie sich doch, „obwohl ich kein Typ bin, der mit dem Kopf durch die Wand will.“ Denn: „Ich mußte mich zwischen der Kurden und Deutschen als Nulifer entwickeln. Das heißt, daß ich Zugeständnisse an beide machen mußte und Teile aufgegeben habe“, ein Prozeß, der sie in Angst versetzt habe.

„Zwischen Deutschen und Kurden als Nulifer entwickeln“

In der Schule genießt sie die Protektion engagierter Lehrerinnen und Lehrer und den Ruf einer Exotin. „Ich wollte nie durchschnittlich sein“, erzählt sie. Nulifer ist fleißig und ehrgeizig. Ihre Kraft schöpft sie aus dem Wunsch, „eine freie, angesehene Frau“ zu werden, wie die Großmutter. Durch eine Kinderlähmung in ihrem ersten Lebensjahr ist sie körperbehindert, das rechte Bein ist im Wachstum zurückgeblieben. „Ich wollte anerkannt werden und hatte zwei Hindernisse zu überwinden: Ich war eine Frau und körperbehindert.“

Naturwissenschaften will sie studieren, das Fach, das ihr höchste Reputation und Anerkennung verschaffen soll: Medizin. Weil sie den numerus clausus aber nicht erreicht, nimmt sie einstweilen mit Biologie an der Bremer Uni vorlieb, um später zu wechseln. „Es war aber keine Entscheidung für mich, sondern eine nach den Kriterien gesellschaftlicher Anerkennung“, weiß sie heute. Sie habe bei ihrer Entscheidung nicht „emotional empfunden“.

Wie weit sie sich schon von den kurdischen Frauen in ihrer Heimat entfernt hat, erlebte sie auf einer Reise durch Kurdistan, dem sich ein längerer Aufenthalt

in ihrem Heimatdort anschließt. Die kurdischen Frauen hätten sich ihr gegenüber mitunter „unterwürfig“ gezeigt. Wie selbstverständlich saß sie beim Essen im Kreis der Männer, redete und rauchte dabei. Trotzdem habe sie sich auch mit den kurdischen Frauen verstanden: Mittags treffen sich die Frauen des Dorfes am Brunnen, um Wasser zu holen und sich auszutauschen. Nulifer, wieder die Exotin, ist und die Neugierde dieser Frauen ausgesetzt. Heimatliche Gefühle? „Nur, als ich diese Natur wieder erlebt habe. Da habe ich gedacht: Hier gehöre ich her.“

Aus ihrer Kindheit ist die Gegenwart türkischer Soldaten in ihrem Dorf noch in deutlicher Erinnerung. Ihr erster Unterricht ist in türkischer Sprache, wie später in Deutschland versteht sie kein Wort davon. Zu Pogromen gegenüber Kurden scheint es damals aber noch nicht gekommen zu sein. Ihre wichtigste Erinnerung an diese Zeit: Der türkische Lehrer hat sie einmal geschlagen, weil sie kein Holz für den Schulofen sammeln wollte. Ihre Großmutter behielt sie von dem Tag an zu Hause. Die nächste Schule, die sie besucht, liegt bereits in Bremen.

Für Nulifer wird das Giftgas- Massaker an irakischen Kurden 1988 in Halabja zum Auslöser einer intensiven Auseinandersetzung mit dem türkisch-kurdischen Konflikt. In der Familie wird offen die Frage aufgeworfen, „wo Allahs Gerechtigkeit ist.“ Nulifer als „Mitglied der zweiten Generation“ denkt sehr

differenziert über künftige Lösungen: „Die Unabhängigkeit Kurdistans muß akzeptiert werden“, fordert sie einerseits. Auf der anderen Seite sagt sie: „Ich glaube nicht, daß ich den neuen kurdischen Nationalismus im Land vorbehaltlos unterstützen könnte.“ Das ist eine vorsichtige Formulierung dafür, daß sie die kurdische PKK nicht für die einzige Lösung in Kurdistan hält: eine Konsequenz aus ihrem Bruch mit der kurdischen Tradition. „Derzeit gibt es aber niemanden, der im Volk mehr Unterstützung hätte“, versichert sie schnell.

In den AStA wird sie eher geschoben, als das sie geht. „Ich weiß nicht, ich war plötzlich drin.“ Über den Ausländer- Ausschuß kommt sie in die Hochschul-Politik, zur AStA- Vorsitzenden habe sie sich im Frühjahr diesen Jahres „aus Solidarität mit der Liste“ wählen lassen. Hier sucht sie wieder ihr „klares Konzept“, tritt für Selbstverwaltung und eine autonome studentische Grundordnung ein. Zu Beginn des Semesters ist sie in die Politilogie gewechselt. Zurück nach Kurdistan will sie nicht. „Die kennen dort nur die Alternative Kampf oder Küche“, was der Aufteilung in Männer und Frauen entspricht. Freie Journalistin will sie werden, weil sie „gerne schreibt“ und aus „Überzeugung gegen Ungerechtigkeit“ kämpft. Das gilt auch für „ihre“ Kurden: Man unterstützt die Kurden nicht, wenn man aus Solidarität nicht kritisiert.“ Markus Daschner