: Wo Bombendrohungen normal sind
■ Bremer mußten Reise in die kurdische Region der Türkei abbrechen
Im „Schutz“ des Diplomatenpasses der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke und im Auftrag der Bremer Senatorin für Kultur und Ausländerintegration sind der Bremer Rechtsanwalt Albert Timmer und der Grüne Paul Tiefenbach in den Südosten der Türkei gereist. Mit eigenen Augen wollten sie die Situation der Kurden sehen und darüber berichten. „Die deutsche Botschaft ist nicht in der Lage, sich aus eigenen Kräften ein Bild von den Menschenrechtsverletzungen zu machen“, nahmen sie aus Ankara mit. Auch der Delegation ist es nur bruchstückhaft gelungen. Am Freitag kehrte sie vorzeitig zurück.
Das immune Diplomatengepäck der Abgeordneten Ulla Jelpke wurde auf der Fahrt vom Flughafen Batman in die kurdische Stadt Diyarbakir durchsucht, ein deutsches Buch über die „kurdische Tragödie“ beschlagnahmt, berichtet Albert Timmer. Das Militär sei allgegenwärtig, militärische Straßenkontrollen an der Tagesordnung. Auf der Fahrt von der kurdischen Stadt Kulp in ein Bergdorf sei die Delegation zunächst von einem Kettenpanzer verfolgt worden, erst beim zweiten Versuch sei es den Bremern gelungen, das Dorf ohne unerwünschte Begleitung zu erreichen.
Für Rechtsanwalt Albert Timmer besteht kein Zweifel: „Das türkische Militär führt nicht allein Krieg gegen die PKK, sondern bewußt gegen die Zivilbevölkerung“. Die Gegend solle entvölkert werden, um der PKK den Boden zu entziehen. Gezielt würden Läden und Kooperativen zerstört, um den Menschen die Existenzgrundlage zu entziehen. Durch die Stadt Kulp rollten Kettenpanzer der NVA, „ohne Rücksicht auf Verluste“. Früher habe die Stadt 10.000 EinwohnerInnen gehabt, jetzt lebe dort nur noch die Hälfte. Vielen bleibe nur die Flucht nach Diyarbakir, in den Westen der Türkei oder ins Ausland. „Aber die Leute sagen, wir wollen hier bleiben, wir lassen uns nicht vertreiben“, betonte Timmer.
In Diyarbakir sprach die Delegation mit dem Chefredakteur der Zeitung Özgun Gündem, nach Timmers Einschätzung die „einzige türkische Zeitung, die den Anspruch hat, objektiv über die Situation im Südosten der Türkei zu berichten“. Sechs Journalisten von Gündem seien im letzten halben Jahr erschossen worden. Die Bombendrohung, die während des Gesprächs in der Redaktion einging, war für den Chefredakteur schon „normal“.
Mitglieder der Ärztekammer berichteten, die Mediziner müßten melden, wenn sie Patienten mit Stich- oder Schußwunden behandelten. Häufig würden solche Patienten von türkischen Gendarmen in den Krankenhäusern mißhandelt.
Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in Diyarbakir fanden die Delegationsmitglieder am Morgen ihr Hotel von Zivilpolizisten umstellt. Ein Polizeikommissar teilte ihnen mit, Besuche ausländischer Delegationen seien nicht mehr erwünscht, Gespräche über Separatismus strafbar. Da sie ihre GesprächspartnerInnen nicht gefährden wollten, brach die Delegation die Reise ab.
Der deutsche Botschafter vereinbarte mit der türkischen Polizei freies Geleit für die Delegation. Das Gepäck der Reisenden sei dennoch gründlich inspiziert worden, berichtet Paul Tiefenbach: Zwei Cassetten mit Gesprächen mit Journalisten und EinwohnerInnen der Stadt Kulp und der aktuelle Bericht der Menschenrechtsstiftung in Ankara wurden beschlagnahmt. Vom stellvertretenden Botschafter erfuhr die Delegation in Ankara, er selbst sei kurz zuvor ebenso aus Diyarbakir ausgewiesen worden.
Für Albert Timmer besteht nach dieser Reise kein Zweifel mehr, daß der türkische Staat für die Morde an der kurdischen Bevökerung verwantwortlich ist. „Wer das nicht glauben will, ist nicht bereit, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.“ Die türkische Regierung habe eine politische Lösung der „kurdischen Frage“ kürzlich abgelehnt. Daß das Militär im Kampf gegen die kurdische Zivilbevölkerung deutsche Waffen einsetzt, konnten die Delegationsmitglieder selbst beobachten. Was in der Türkei stattfinde, sei „Völkermord“. Diemut Roether
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