Menschenrechte sind kein abstrakter Begriff

■ 5000 Teilnehmer bei Kundgebung gegen Ausländerfeindlichkeit in der Gedenkstätte Sachsenhausen

Sachsenhausen. Als Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, kürzlich gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, daß wie in Frankreich eine Million Menschen gegen Antisemitismus und Fremdenhass protestieren, verneinte er das. Bubis hatte recht. Zur Kundgebung nach Sachsenhausen, unter dem Motto »Nachdenken in Deutschland«, kamen gestern nur etwa 5.000 Menschen. Das waren halb soviel Menschen wie ein Tag zuvor bei der Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegen Sozialabbau und Arbeitslosigkeit auf dem Alexanderplatz.

Zum Nachdenken und anschließendem Schweigemarsch in der Mahn- und Gedenkstätte aufgerufen hatten die Brandenburgische Landdesregierung, die Landesparlamente von Berlin und Potsdam, der Zentralrat, die Gewerkschaften sowie mindestens 20 verschiedene, vor allem kirchliche Organisationen. Eröffnet wurde die Kundgebung durch ein Gebet des Potsdamer Rabbiners Naftali Grimberg, beendet durch das Totenlied El Mole Rachamim. Es sang Estrongo Nachama, Kantor der Jüdischen Gemeinde Berlin, der im Frühjahr 1945 von Auschwitz nach Sachsenhausen deportiert und dort vielleicht selbst Häftling in der verbrannten Baracke 38 gewesen war. Robert Guttmann vom Zentralrat der Juden zog in seiner Rede die Verbindung zwischen der virulenten Fremdenfeindlichkeit und den Anschlägen auf jüdische Gedenkstätten: »Die Spur der Gewalt begann in Hoyerswerda und führt nach Sachsenhausen«, sagte er. »Wenn es nicht Veranstaltungen wie diese geben würde, könnte man mutlos in und über Deutschland werden. Er forderte »Landfrieden« und Achtung der Menschenrechte für alle, die in »unserem Land leben oder zu Gast sind«.

Sehr bewegend war die, immer wieder von Beifall unterbrochene Rede, von Hildegard Hamm-Brücher. »Lassen Sie nicht zu, daß Menschen zu Gewalt Beifall klatschen«, rief sie. Auch die Nazis seien an die Macht gekommen, weil die große Mehrheit geschwiegen habe. An jedem Tag müsse daran erinnert werden, daß den Anfängen zu wehren sei. »Toleranz gegenüber Menschen aus anderen Rassen und Religionen ist Voraussetzung für den inneren Frieden«. Die Deutschen müssten lernen einander zuzuhören und zu achten. Indirekt war das auch an die Adresse der nach Sachsenhausen Gekommen gerichtet. Sie hatten mit Buhrufen und Pfiffen die Botschaft von Bundeskanzler Kohl unterbrochen, die Kanzleramtsminister Friedrich Bohl vom Blatt las. Kern der Ansprache war die Aussage, daß Sachsenhausen eine Stätte der Mahnung gegen Links- und Rechtsextremismus sei und daß man »Terroristen wo immer sie stehen, die Zähne zeigen muß.« Heuchler und das mahnende Stichwort »Rostock«, riefen ihm die Demonstranten entgegen. Deutlich war, daß der Bonner Appell »Gegenüber Intoleranz dürfe es keine Toleranz geben« für unglaubwürdig gehalten wurde.

Beifall hingegen erhielt die israelische Erziehungsministerin Shulamit Aloni, die ihre Ansprache« angesichts der Brandstätte nur in Hebräisch halten wollte. Heute könne niemand mehr sagen, »ich habe nichts gewußt«. Und Beifall erhielt auch Ulrich Wickert, Tagesthemen-Moderator, als er sagte, daß die Menschenrechte gelebt werden müssen, daß die Menschrechte kein abstrakter Begriff seien.

Auch am Sonnabend, einen Tag vor der Demonstration, waren viele Menschen nach Sachsenhausen gekommen, um am Tag der deutschen Einheit an dieser geschändeten jüdischen Barracke Blumen niederzulegen. Die stellvertretende Gedenkstättenleiterin Knop sagte, das Besucheraufkommen habe sich in den letzten Tagen verzehnfacht. Anita Kugler