■ Gedanken zum Tag der deutschen Einheit
: Und die Mehrheit schweigt

Eines der wichtigsten Grundprinzipien der Demokratie ist, daß die politische Entscheidungsgewalt vom Volk ausgeht, aber von dessen gewählten Vertretern, also von den Politikern, ausgeübt wird. Das Volk ist kein ausführendes Organ, es entscheidet ausschließlich mit seiner Stimme an der Wahlurne. So ist es wenigstens in anderen demokratischen Ländern dieser Welt. In Deutschland aber ist es anders. Wenn Minderheiten und ihre Vertreter anders gesinnt sind, greifen sie zu eigenen Waffen, zur Selbstjustiz. Auf ihre Weise gehen sie sogar auf Menschenjagd, zur Zeit auf Asylantenjagd. Erstaunlich ist nur, daß die deutschen Politiker und Parteien, aus welchem Grund auch immer, ihren politischen Kurs dementsprechend, also zugunsten der gewalttätigen Minderheit, wechseln können. Auch wenn sie dabei die Interessen der Mehrheit, die sie vertreten, nicht einmal beachten. Und die Mehrheit schweigt. Anstatt gegen diese Gewalt, die die Demokratie nur zerstören kann, anzugehen, versuchen in diesen Tagen deutsche Politiker, Asylbewerber so schnell wie möglich aus ihrem Land zu entfernen.

So hat man jetzt mit einem Land zu tun, in dem nicht die Vertreter des Volkes regieren, sondern die radikale, gewalttätige, unzufriedene Minderheit. Kann man ein Regime, in dem eine radikale Gruppierung durch eigene Gewalt über die Mehrheit des Volkes Macht ausübt, als Demokratie bezeichnen? Ist so etwas unter dem Nazi-Regime nicht schon einmal vorgekommen? Minderheiten, die durch Waffengewalt politische Entscheidungen erzwingen, werden in anderen Ländern, in denen Demokratie herrscht, als Terroristen bezeichnet. Die Regierungen versuchen dann den inneren Frieden wieder herzustellen.

Was geschieht zur Zeit in Deutschland? Hier werden Menschen auf der Straße ermordet, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben. Flüchtlingsheime werden angegriffen, weil sie Menschen beherbergen, die „nicht in Deutschland geboren sind“. Einige Politiker nehmen diese Mörder und Gewalttäter sogar in Schutz, indem sie diese entschuldigen: „Diese Jugendlichen haben keine Zukunftsperspektive. Man muß sie verstehen...“ Und die Mehrheit schweigt.

Was tun die gesellschaftlichen Organisationen, die aufmerksame Wächter der Demokratie sein sollen? Die Universitäten, Kirchen, Handelskammern und Gewerkschaften? Sie begnügen sich mit Presseerklärungen, in denen sie den Journalisten ihre Sorgen mitteilen. Und nun die Presse! Die deutsche Presse war bis Ende 1989, also bis zum Fall der Mauer und Zerfall der Sowjetunion, weltweit ein Vorbild, wenn es um den Schutz der Menschenrechte ging. Es scheint, als ob nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die deutsche Presse ihre Mission beendet hätte. Welches Presseorgan hat sich gegen die neue Bonner Außenpolitik, die unter dem Motto „Teile und leite“ steht, gestellt? Sind es nicht die gleichen Zeitungen, die ihre Leser heute gegen Ausländerfeindlichkeit auf die Straße rufen und noch gestern mit Parolen wie „Ausländer bedrohen den inneren Frieden“ hetzten?

So wie alle anderen Menschen sind auch Regierende nicht frei von Fehlern. Wenn ein Volk aber durch sein Schweigen ein solches Fehlverhalten wie damals unter dem Hitler-Regime duldet, so bedeutet das für die Weltöffentlichkeit unwillkürlich eine Wiederholung der Geschichte.

Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Einheit, gehörte ich zweifellos zu den glücklichsten Menschen der Welt. Nicht nur weil endlich ein Volk, das seit 40 Jahren durch Waffengewalt auseinandergehalten worden war, wiedervereinigt wurde, sondern weil ich mich eher auf eine neue Weltordnung freute. Ich hoffte, daß gerade die Deutschen, die mit Haß, Krieg und Tod schlimme Erfahrungen gesammelt hatten, sich jetzt nur noch um Freiheit, Frieden und Menschenrechte bemühen würden. Ein weiterer und wichtiger Grund für diese Annahme war die Tatsache, daß 16 Millionen Menschen im Osten des Landes 40 Jahre lang unter einem sozialistischen Regime gelebt hatten, einem System, deren Stützpfeiler Menschenliebe hätte sein sollen!

Das waren die Gefühle eines türkischen Journalisten, der zu diesem Zeitpunkt seit 22 Jahren in Deutschland lebte und Land und Leute ausreichend zu kennen glaubte.

War das alles ein Traum?

Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung fällt es mir schwer, meine Gefühle und Zukunftsgedanken auszudrücken.

Ich wünschte, ich würde mich täuschen, und das, was in diesem Land in den letzten zwei Jahren geschehen ist, wäre nicht geschehen. Es fällt mir schwer zu sagen, daß die Deutschen ein ausländerfeindliches Volk sind und daß der wachsende Nationalismus gleichzeitig als eine Bedrohung des Weltfriedens angesehen werden muß.

Fast möchte ich vergessen, daß die Städte Hoyerswerda, Rostock und Quedlinburg innerhalb der Grenzen Deutschlands liegen.

Auch den Wechsel der Bonner Außenpolitik, deren Grundsatz bis zum Fall des Eisernen Vorhangs „Freiheit für alle“ war, hin zum „Deutschland über alles“, will ich nicht wahrhaben.

Daß die Menschen das 50jährige Jubiläum von Hitlers V2-Raketen an dem Tag feiern wollen, an dem die deutsche Wiedervereinigung stattgefunden hat, also am 3. Oktober, halte ich für allgemeingefährlich. Es ist kaum zu glauben, daß diese Menschen demselben Volk angehören, das unter solchen Waffen am schlimmsten gelitten hat.

In naher Zukunft möchte ich nicht mit Schrecken an das Jahr 2000 denken, sondern weiterträumen. Ich lasse mich nicht gerne wachrütteln, auch wenn die Sonne der Wahrheit schon angefangen hat, meine Haut zu verbrennen... Ali Yumusak

Der Autor ist Redaktionsleiter des Berliner Büros der türkischen Tageszeitung Hürriyet.