: Sensationelles Dämmerungsstück
Neues Joyce-Werk entdeckt: „Finn's Hotel“ von 1923 ■ Von Ralf Sotscheck
Superlative sind in der Welt der Literaturwissenschaft keine Seltenheit. Wenn also von „einer der wichtigsten literarischen Entdeckungen des Jahrhunderts“ gesprochen wird, ist zunächst Skepsis angebracht. Diesmal geht es allerdings um keinen Geringeren als James Joyce. Der irische Wissenschaftler Danis Rose, der seit 16 Jahren an einer kritischen Ausgabe von „Finnegans Wake“ arbeitet, hat bei seinen Forschungen angeblich ein bislang „verschollenes“ Werk seines Landsmannes ausfindig gemacht.
Es handelt sich um eine Sammlung von sieben Kurzgeschichten unter dem Titel „Finn's Hotel“. Joyce soll die Arbeit daran 1923 aufgenommen, jedoch schon ein Jahr später wieder abgebrochen haben. Erst 1938 kam er darauf zurück, baute eine „kannibalisierte, unbeholfene und verzerrte Version“ in „Finnegans Wake“ ein und „verdarb dadurch beide Bücher“, so Rose.
Bisher waren Joyceaner davon ausgegangen, „Finn's Hotel“ sei lediglich ein früher Titel für „Finnegans Wake“ gewesen, doch Rose berichtigt: „Zwischen dem ,Tag- Buch‘ ,Ulysses‘ und dem ,Nacht- Buch‘ ,Finnegans Wake‘ hat Joyce das ,Dämmerungsbuch‘ ,Finn's Hotel‘ geschrieben. Zwar illustriert es die Übergangsphase, aber es ist eindeutig ein eigenständiges Werk.“ Auch wenn darin zum Teil dieselben Personen vorkommen — wie zum Beispiel Earwicker (der „Erika“ ausgesprochen wird) —, so hätten sie in dem späteren Werk doch einen völlig anderen Charakter.
Neue Bewertung von Joyce
Der Wissenschaftler, der sich durch tausende handgeschriebener Manuskriptseiten gearbeitet hat, glaubt, daß die sieben Geschichten vollständig zu rekonstruieren sind: “„Sie sind keineswegs unvollendet, sondern korrigiert und überarbeitet.“ Rose nimmt an, daß Joyce die Arbeit abgebrochen hat, als ihm die Idee zu „Finnegans Wake“ kam. „,Finn's Hotel‘ ist äußerst klar und hervorragend lesbar. Es hat Parallelen zu den ,Dubliners‘, aber es ist universal und durchbricht die provinziellen Grenzen dieser Geschichten. Es ist ,Dubliners‘ für die ganze Welt.“
Roses Entdeckung hat die Welt der Joyce-Fans durcheinandergebracht. „Ein unglaublich aufregender Fund“, befand Professor Michael Groden von der Universität Ontario, der das James-Joyce-Archiv verwaltet. Rose ist sogar davon überzeugt, daß dadurch alle bisherigen Vorstellungen von Joyce revidiert werden: „Wir müssen Joyces Leistung neu bewerten. Alles muß jetzt in einem neuen Kontext gesehen werden.“
Die sieben Stories handeln von irischer Geschichte und Mythologie. Irlands Schutzpatron St. Patrick spielt darin ebenso eine Rolle wie Tristan und Isolde. Die Erzählung über die vier Chronisten, die „Wächter über die irische Geschichte“, steht laut Rose auf derselben Stufe wie die frühere Erzählung „Die Toten“, „die vollendetste Kurzprosa, die jemals geschrieben wurde“. Eine kritische Ausgabe von „Finn's Hotel“ wird im Frühjahr bei Viking Publishers erscheinen. Den Titel des Buches hat Joyce offenbar von dem Hotel übernommen, in dem seine Frau Nora Barnacle arbeitete, als er sie kennenlernte.
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