„Mittendrin im Schlamassel“

SPD-Forum nach zwei Jahren Einheit zieht eine düstere Bilanz: Die Kluft in Deutschland wird länger zu sehen sein, als die Besatzung durch die Sowjetunion gedauert hat  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) — Selbstzufriedenheit über die lange vorliegenden, die besseren Einheits-Konzepte und wohlfeile Schelte einer in der Tat glücklosen Bundesregierung — das in etwa war der Erwartungshorizont, mit dem man sich gestern morgen in vorauseilender Katerstimmung dem Berliner Reichstag näherte. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte „eine Zwischenbilanz“ versprochen: zwei Jahre deutsche Einheit. Daß es anders kam, daß das Forum über weite Strecken zu einer Blut-Schweiß- und-Tränen-Veranstaltung jenseits sozialdemokratischer Selbstgerechtigkeit geriet, lag wohl in erster Linie an dem dominanten Podiums-Trio Klaus von Dohnanyi, Edzard Reuter, Helmut Schmidt. Deren Distanz zum politischen Tagesgeschäft förderte Klartext, der an kaum einer Stelle von parteipolitischem Kalkül, eher von den dürren Realitäten im vereinten Deutschland motiviert schien: „Insgesamt wird die Kluft in Deutschland länger zu sehen sein, als die Besatzung durch die Sowjetunion gedauert hat. Also länger als ein halbes Jahrhundert.“ Vergleichbar, so Klaus von Dohnanyi, sei das nur mit „den Wirkungen von Limes, Reformation oder Dreißigjährigem Krieg“.

Für die, denen solche historischen Vergleiche zu emphatisch oder einfach überzogen erschienen, präzisierte der Hamburger Ex-Bürgermeister und jetzige Takraf-Sanierer im deutschen Osten: „Angleichung der Einkommen: „10 Jahre“; „Angleichung des Beschäftigungsniveaus: 15 Jahre“; „Angleichung der Lebensbedingungen: 25 Jahre“; „Angleichung der privaten Vermögen: mehr als 25 Jahre“.

Als „unvermeidlich“ hielt er, „daß die sozialen Spannungen und politischen Probleme zunächst erheblich zunehmen werden — und zwar unabhängig von besserer oder schlechterer Politik“. Dohnanyis Metapher: „Ein Krieg in Friedenszeiten.“ Zwar ließ Ex- Kanzler Schmidt mit gewohnt schneidend-enthobenem Gestus keinen Zweifel, wer allein die besssere Politik fürs Vaterland formulieren und durchsetzen könnte, doch mit seinem Abgesang auf rosige Perspektiven stand er Dohnanyi in nichts nach. Von der „Idee einer schnellen Aufholjagd“ sei „dringend abzuraten“. Doch diese Enttäuschung für die Bürgerinnen und Bürger im Osten sei zwar auch für die im Westen nicht kostenlos; Schmidts Voraussage, die auch bei der sozialdemokratischen Klientel noch kaum angekommen ist: „auf längere Jahre keine realen Einkommenssteigerungen“. Diese Zumutung Richtung Westen garniert Ex-Offizier Schmidt dann mit einer nach Osten: Zur „Moral in der Politik“ gehöre auch, „daß die 16 Millionen sich ihrer Wehleidigkeit bewußt werden und sie hinter sich lassen“.

Edzard Reuter, der mehrmals seine Freude ausdrückte, „heute kein Politiker zu sein“, prophezeite den Zwang zum „Teilen aus der Substanz“ statt dem „Teilen aus Zuwachs“ und fügte ansonsten dem düsteren Szenario die internationale Perspektive hinzu: Ökonomisch stehe „das Schreckbild eines weltwirtschaftlichen Tiefs am Horizont“, von dem kluge Interpreten meinten, es handele sich nicht um eine der üblichen temporären Dellen, sondern um eine Entwicklung, „die die Welt über die nächsten dreißig bis fünfzig Jahre prägen werde“. Politisch machten sich „Egoismen und Nationalismen“ breit; selbst unter befreundeten Nationen wachse das Mißtrauen: „Deutschland scheint einmal mehr mitten drin im Schlamassel. Nicht zuletzt die „radikalen Gewaltausbrüche“ drohten zu einer international wirksamen „Abschreckung von Investoren“ zu werden.

Von der komplizierten „mentalen Langzeitaufgabe“, die der ökonomischen in nichts nachsteht, handelte Friedrich Schorlemmer. „Aschermittwochs- und Bußpredigt“, faßte Moderatorin Herta Däubler-Gmelin zusammen, was der Wittenberger Pfarrer zum gesellschaftlichen Einheitsprozeß zu sagen hatte: „Über die Spaltung in der Einheit, über die Spaltung durch die Einheit“ müsse ohne Vorbehalt gesprochen werden, damit nicht die wechselseitigen Vorurteile die Atmosphäre einer zukünftigen Einheit zunichte machten.

Wie mit den höchst unterschiedlichen Voraussetzungen in West und Ost gemeinsam Demokratie gestaltet werden könne, sei offen. Klar sei allerdings jetzt zu erkennen, „daß die Deutschlandrufer aus dem dunklen Schoß unserer Geschichte kommen und die Demokratie gefährden“.

Schorlemmers politische Folgerung: Korrekturen, besser das „neue Konzept“ hätten zumindest in Grundzügen die „Einvernehmlichkeit der Parteien“ zur Voraussetzung. Korrigiert werden müsse zuerst „die notwendige, sträflich versäumte Vermittlungsaufgabe der Politik in komplizierten gesellschaftlichen Situationen“. Wäre, „für eine begrenzte Zeit“, so Schorlemmers Frage, „nicht eine große Koalition der Vernunft sinnvoll?

Fraktionschef Klose gab sich da in seinem Einleitungsreferat ganz aufgeräumt: Was getan werden müsse, müsse eben getan werden. Die Große Koalition? — Sicher, man hätte damals, 1990, an eine Große Koalition denken können. Und heute? — „Ich sehe sie nicht, ich wünsche sie nicht, ich schließe sie nicht aus.“