Die exakte Rechnung kennt noch keiner

Die ganz große Koalition zur Gesundheitsreform stößt bei Ärzten, Apothekern und Pharmaindustrie auf Widerstand/ Tauziehen um Kosten geht noch in die nächsten Runden  ■ Von Tissy Bruns

Bonn (taz) — Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) rügte öffentlich, was auch in den oberen Etagen von FDP und Union nur mit finsteren Mienen aufgenommen wurde. „Staatliche Einheitskrankenkasse“ lautete das Verdikt der DAG über die Organisationsreform der Krankenversicherung, die völlig überraschend in Seehofers Riesenkoalition zur Gesundheitsreform vereinbart wurde. Die mehrtägige Klausur der Experten aus CDU/CSU, FDP und SPD hatte am Sonntag einen Kompromiß gefunden, der weit über die ursprünglichen „Eckpunkte“ von Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) hinausgeht. Die Wahlfreiheit zwischen Ersatz- und Allgemeinen Ortskrankenkassen und der bundesweite Finanzausgleich zwischen diesen Kassenarten gehört zu den wichtigsten Strukturmaßnahmen, die neu in das Reformpaket aufgenommen wurden. Nun werden die Fraktionen, heute abend dann eine erneute Spitzenrunde der vier Parteien über die Gesundheitsreform beraten. Bereits im November soll das Gesetz verabschiedet werden. Heftigen Widerstand haben bereits Zahnärzte und Ärzte angekündigt: Sie erwägen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht.

Seehofers Entwürfe sind insgesamt kräftig überarbeitet worden. Die SPD, die vor allem kritisiert hatte, daß Seehofer fast ausschließlich kurzfristige Kostendämpfungsmaßnahmen und wenig strukturelle Ansätze zur Sanierung des kränkelnden Gesundheitswesens vorgelegt hatte, konnte sich dabei zu einem guten Teil durchsetzen. Vor allem die Aufnahme der Krankenversicherungsreform trägt ihre Handschrift. Künftig sollen also Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose frei wählen können, ob sie in die AOK oder die Barmer gehen. Damit entfällt das entscheidende Wettbewerbsprivileg der Ersatzkassen. Die konnten sich die gutverdienende Kundschaft aussuchen, während die AOK jeden nehmen mußte: die Arbeitslosen und Schlechtverdienenden, im Kassenjargon auch „schlechte Risiken“ genannt. Wenn zudem, wie jetzt vereinbart, bundesweit zwischen den Kassenarten ein „Risikoausgleich“ durchgeführt werden soll, dann ist das nicht nur eine Entlastung für die AOK. Deren Beitragssätze erreichen inzwischen Größenordnungen, die das Solidarprinzip der Krankenversicherung generell in Frage stellen: Über 16% der jeweiligen Bruttoeinkommen müssen in einigen Großstädten für die Krankenversicherung aufgebracht werden. Mit den neuen Regelungen könnte das System der gesetzlichen Krankenversicherung von solchen Spitzensätzen wegkommen — und damit auch von der Frage, ob es denn überhaupt noch tragfähig ist.

Der SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler mußte für diesen Coup indessen auch zahlen. Die Selbstbeteiligung der Versicherten, die Seehofer kräftig erhöhen wollte, wird nun auch von der SPD mitgetragen. Sie wurde jedoch abgemildert. Sollten die Patienten nach dem alten Koalitionsentwurf für jeden Tag im Krankenhaus zuzahlen, bleibt es nun bei der alten Begrenzung auf 14 Tage. Doch die werden teurer: im Westen 11, im Osten 8 DM. Auch der heftig attackierten Selbstbeteiligung bei den Medikamenten stimmte die SPD zu und sieht in der ab 1994 geltenden Regelung sogar eine wünschenswerte Strukurmaßnahme. Dann orientiert sich Selbstbeteiligung an den Packungsgrößen, könnte also zur Mengenbegrenzung beitragen. Bis dahin zahlen die Patienten je nach Medikament 3, 5 oder 7 DM.

Erhalten bleibt aus dem ursprünglichen Seehofer-Gesetz die Krankenhausstrukturreform. Wann der Übergang vom Selbstkostenprinzip zu leistungsbezogenen Pflegesatzformen vollzogen sein soll, gehört allerdings zu den offenen Punkten. Die Einsparungen und Zuwachsgrenzen für die Leistungsanbieter, also Ärzte, Apotheker, Pharmaindustrie, des alten Seehofer-Papiers bleiben wenig verändert bestehen und dürften die Zeichen erneut auf Sturm stellen. So wird den Zahnärzten nur noch eine 10prozentige Absenkung ihrer Vergütung zugemutet. Aber die vorgesehene Aufteilung in Regel- und Wahlleistung beim Zahnersatz, der erwünschte Einstieg in der Privatabrechnung auch für Kassenpatienten, entfällt wieder. Das zu schaffende „Arzneimittelinstitut“ wird die Pharmaindutrie zusätzlich verärgern. Das nämlich soll in Zukunft eine „Liste verordnungsfähiger Arzneimittel“ erstellen. Im Klartext ist das die von der SPD längst geforderte „Positivliste“, ein aussichtsreiches Mittel gegen die Unmenge therapeutisch nutzloser Medikamente.

Die Zustimmung der FDP zu diesem Paket kann nur damit erklärt werden, daß sie, wie in anderen Fragen auch, nur die Wahl hatte, am Rande einer großen Sachkoalition zu stehen oder noch mitzumischen. Der Gesundheitsminister hat sich und der Union jedes Abrücken vom Kompromiß schwer gemacht: Für ihn ist das Ganze das „tiefgreifendste Reformwerk in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung“. Die SPD wertet ähnlich: „durchgreifende Reform“. Beide verweisen darauf, daß das anvisierte Einsparvolumen von 11 Milliarden DM eingehalten wurde. Da aber muß gezweifelt werden. Die Koalitionäre haben offenbar getrennte Rechnungen: während die SPD behauptet, die Versicherten müßten nur noch eine Milliarde aufbringen, redet Seehofer immer noch von zwei bis drei. Die Gesamtsumme von 11 Milliarden kann niemand exakt vorrechnen.