Das ganze Ausmaß der Zerstörung, die der Absturz der Boeing 747 der israelischen El Al am Sonntag abend im Amsterdamer Wohnviertel Bijlmermeer angerichtet hat, zeigte sich erst in den frühen Morgenstunden, als die Feuerwehr die Flammen unter Kontrolle gebracht hatte. Unter den Wrackteilen und eingestürzten Gebäudeteilen liegen womöglich bis zu 200 Menschen begraben, die Hoffnung, daß noch jemand lebend geborgen werden kann, haben die Rettungstrupps aufgegeben.

„Und dann sprangen sie von den Balkonen“

Das erste Licht des nahenden Tages hat den immer noch verrauchten Ort der Katastrophe in ein surrealistisches Dekor verwandelt, der dichte Rauch, der die Rettungsarbeiten in den ersten Stunden nach dem Absturz der El-Al- Maschine behinderte, ist abgezogen. Vor den Rettungsmannschaften in der Amsterdamer Trabantenstadt Bijlmermeer türmt sich ein riesiger Berg von Betonplatten und Wrackteilen des völlig zerborstenen Jumbos auf.

Der Morgenschicht von Polizei und Feuerwehr von Amsterdam steht jetzt die schwierigste Aufgabe bevor: die Bergung und Identifizierung der Toten; 239 waren in den beiden Wohnblocks Groenveen und Kruidberg gemeldet, bisher wurden 14 Tote, darunter die vier Besatzungsmitglieder der Boeing747, und 29 Verletzte geborgen. Riesige Spezialkranwagen werden in diesen frühen Morgenstunden installiert an der Stelle, wo der Jumbo sich am Vorabend, als die meisten Bewohner beim Abendessen saßen, quer durch das Hochhaus Groenveen gebohrt hat. Aus graufarbenen Kühlwagen laden Feuerwehrleute Container aus, in die die Überreste zur Identifizierung geborgen werden sollen.

Nachdem die fast 600 Feuerwehrleute in der Unglücksnacht das Flammenmeer eingedämmt hatten, kamen sie am Morgen mit ihren Rettungs- und Bergungsfahrzeugen nicht mehr weiter: Über eine Breite von mehr als 20 Metern hat der Jumbo eine tiefe Schneise in die zwei zusammenhängenden Wohnblocks gerissen, die zehn Etagen inmitten der zwei Hochhäuser wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht.

Für das Abtragen des Berges, so schätzen die Experten, werden drei bis vier Tage benötigt. Unter den Trümmern vermutet der Oberkommandierende der Amsterdamer Feuerwehr, Hugo Ernst, über 200 Opfer. Die Hoffnung, daß noch jemand unter dem Mauerwerk lebt, haben die Wehrleute aufgegeben. Sie haben bereits Leichen ausgemacht, konnten sie aber bisher nicht bergen.

Am Rande des weiträumig abgesperrten Gebiets kommen eher zögernd Anwohner der Unglücksstelle näher. In den Gesichtern der meist surinamesischen, antillanischen, ghanaischen und pakistanischen Bewohner des Viertels steht auch noch viele Stunden nach dem Absturz des Jumbos der Schrecken geschrieben. Die meisten von ihnen haben zuerst an ein Erdbeben gedacht. Doch der Blick aus dem Fenster belehrte sie eines besseren: Das Kerosin aus den Flugzeugtanks hatte einen Großteil der beiden Häuser in Brand gesteckt. Davor brannten Bäume und Flugzeugteile lichterloh.

„So stelle ich mir Krieg vor“

Immer und immer wieder müssen die Menschen ihre Geschichte erzählen. Wie schon in der Nacht Emil Cedir; er wiederholt immer wieder fassungslos: „Sie sind von den Balkonen gesprungen, von der achten Etage.“ Der Arbeiter aus dem Surinam steht noch Stunden nach dem schrecklichen Absturz unter Schock. Er hatte gerade die Sportschau im Fernsehen gesehen, als die Transportmaschine auf die Hochhäuserblocks stürzte. Auch Cedir, der für die niederländische Fluggesellschaft KLM auf dem nahegelegenen Flughafen Schiphol arbeitet, dachte zunächst an ein Erdbeben, rannte aus seiner Wohnung und sah nur wenige Meter vor sich einen riesigen Feuerball. Die Häuser gegenüber standen in Flammen. „Und dann sprangen die Menschen von den Balkonen“, wiederholt Cedir. Eine Frau sei mit ihrem Baby im Arm von der zweiten Etage aus gesprungen — und so dem sicheren Tod entkommen.

Während Emil Cedir erzählt, haben Feuerwehrmänner und Polizei damit begonnen, weiträumig das Gelände um die zwei Häuser abzusperren. Zwischen den Wohnblocks, die vor wenigen Stunden noch zusammenstanden, klafft jetzt eine riesige Lücke. Über eine Breite von 20 Meter hat das Flugzeug die Häuser aufgerissen, von oben bis unten, und wohl fast 200 Menschen in den Tod gerissen.

Die ganze Nacht über waren die herbeigeeilten Rettungstruppen im Einsatz. Doch auch acht Stunden nach dem Absturz steigen immer noch dichte Rauchschwaden aus den Trümmern, fackeln noch vereinzelt Flammen auf. „So stelle ich mir Krieg vor“, sagt eine junge Frau.

Feuerwehr und Polizei haben sich so weit wie möglich in die einsturzgefährdeten Wohnungen vorgewagt, doch Hoffnung, noch Menschen lebend bergen zu können, haben sie keine. Zaman Faroog, ein 26jähriger Pakistani, beobachtet die herumirrenden Lichter der Taschenlampen der Wehrmänner in den verkohlten Wohnungen aus der Ferne; er hat sechs Jahre lang dort gewohnt, wo jetzt nur noch Rauch aufsteigt. Mit Tränen in den Augen erzählt er von dem Glück, wenige Minuten zuvor mit seiner Familie das Haus verlassen zu haben, um seinen in der Nachbarschaft wohnenden Cousin zu besuchen. „Seitlich gekippt“, so erzählt der Pakistani, „ist das Flugzeug in die Häuser gerast.“ Aber warum, so fragt er sich, ist der Kapitän über dieses dichtbesiedelte Gebiet geflogen, wenn er Schwierigkeiten mit dem Transportjumbo hatte. Warum ist er nicht über das freie Land in wenigen Kilometern Entfernung geflogen?

Triebwerke-Störung schon vor dem Start

Darüber spekulieren auch Fachleute. Über das, was sich in den letzten Minuten nach dem Notruf der Besatzung im Cockpit der israelischen Maschine abgespielt hat, wird erst der Flugschreiber Aufschluß geben können. Ein Rätsel ist offenbar für so manchen Augenzeugen des Absturzes, daß die Besatzung trotz des Ausfalls der beiden Triebwerke nicht wenigstens mit den beiden übrigen intakten Motoren noch versucht hat, eine Wende zu vollziehen in Richtung der nur anderthalb Kilometer entfernt liegenden Wiesen. Die havarierte Boeing soll mit Vollgas, statt mit reduzierter Geschwindigkeit, und mit der Nase nach unten, statt zu gleiten, in das Viertel gejagt sein.

Während inzwischen ein terroristischer Hintergrund ausgeschlossen wurde, herrschte über die genaue Unfallursache am Montag noch Unklarheit. Zwar beeilten sich Vertreter sowohl der israelischen Airline als auch der Herstellerfirma Boeing zu betonen, das 1979 gebaute Frachtflugzeug habe vor seinem Absturz nie Pannen gehabt, eher eine mit insgesamt 9.873 Landungen und 44.736 Flugstunden „absolut normale“ Geschichte. Nach Informationen der Amsterdamer Zeitung Het Parool jedoch sei mit dem Jumbo schon vor seinem letzten fatalen Start etwas nicht in Ordnung gewesen; ein KLM-Mitarbeiter erklärte gegenüber der Zeitung, die Maschine habe bereits bei der Ankunft aus New York eine Störung der Triebwerke gehabt. Techniker der El Al hätten fieberhaft gearbeitet, um das Flugzeug startklar für den Weiterflug nach Tel Aviv zu bekommen, und dabei jegliche Unterstützung durch KLM-Techniker abgelehnt. Angeblich habe es Störungen bei der Treibstoffzufuhr gegeben. Die israelische Zeitung Maariv meldete gestern, daß die Unglücksmaschine schon früher Probleme gemacht habe, El- Al-Techniker behaupten in der Ausgabe, das Flugzeug sei „zum Absturz verurteilt“ gewesen; vor drei Jahren habe Kapitän Jitschak Fuchs, der am Sonntag abend in Amsterdam umgekommen ist, seinen Jumbo vor einem Absturz über New York gerade noch abfangen können.

In Amsterdam hatten die meisten kaum eine reelle Chance, dem Inferno zu entkommen. Von den Anwohnern, die das Unglück überlebt haben, will keiner schlafen gehen. „Wenn ich die Augen zumache, habe ich Angst, sie nicht mehr aufzumachen“, sagt einer von ihnen. Die anderen sitzen stumm zusammen und trauern, kannten sich doch irgendwie alle in dieser Gegend. Empörung macht sich Luft bei einigen, die gesehen haben wollen, wie unmittelbar nach der Katastrophe Anwohner anfingen, die Wohnungen derer zu plündern, die vor dem Flammenmeer geflüchtet waren.

Emil Cedir blickt starr auf die Lösch- und Aufräumarbeiten. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie gesprungen und auf den Rasen vor dem Haus aufgeschlagen sind.“ „Beruhige dich“, haben ihm die Nachbarn gesagt, „und trink ein Bier.“ Die leere Bierdose hat Emil noch immer in der Hand. „Obwohl ich doch sonst gar kein Bier trinke“, sagt der Mann aus Surinam und schüttelt seinen Kopf. Hans-Peter Hagemes (dpa),

Amsterdam