In Shanghai boomt die Schattenwirtschaft

■ Für die Arbeitskräfte staatlicher Betriebe sind ihre „schwarzen“ Nebenjobs weit lukrativer

Acht Titel, darunter die Ehrenbürgerschaft von Kalifornien, schmücken seine überdimensionale Visitenkarte, die er mit großer Geste überreicht. Mit unverhohlenem Stolz spricht Cai Guantiang von seinem Reichtum — um gleich darauf wieder dorthin zu enteilen, wo er am glücklichsten ist: auf dem Tanzparkett in einer der zahllosen Bars von Shanghai.

Seitdem der heute 69jährige Cai vor neun Jahren in den Ruhestand trat, hat er ein privates Bildungs- Imperium geschaffen. Angefangen hatte der ehemalige Mathematiklehrer mit etwa 60 Mark in der Tasche, heute hat er 25.000 StudentInnen und ist Millionär: Die DozentInnen an seinem Qianjin-Kolleg arbeiten ausnahmslos „schwarz“. In den vergangenen Jahren ist es Cai von den Shanghaier Behörden oft zum Vorwurf gemacht worden, daß er den staatlichen Sektor umgehe. Nachdem aber Deng Xiaoping Anfang 1992 grünes Licht für Unternehmer und die Schwarzarbeit gegeben hat, sie sogar als nachahmenswertes Modell für die Verbesserung der Wirtschaft pries, könnte Cai als Mann der Zukunft gelten. „Für mich ist das nicht nur Schwarzarbeit, oft ist es sogar der Hauptjob“, sagt ein Englischlehrer an der Schule von Cai Guangtian. An seinem eigentlichen Arbeitsplatz, einer staatlichen Schule, haben ihn seine Vorgesetzten in diesem Semester zu keiner einzigen Unterrichtsstunde verpflichtet. So kann er seine ganze Zeit im Qianjin-Kolleg verbringen. „Meine Schule hat nichts dagegen — vorausgesetzt, man sagt nicht nein, wenn sie tatsächlich Arbeit für einen haben.“

Das vom staatlichen Arbeitgeber tolerierte zusätzliche Einkommen führt dazu, daß diese LehrerInnen bei der Stange bleiben — anders als viele ihrer KollegInnen, die sich lukrativeren Karrieren zugewandt haben. Der Lehrer zeigt auf die Musikkapelle, deren Musik seinen Boß auf dem Tanzboden herumwirbeln läßt: „Auch die da arbeiten eigentlich im Konservatorium.“ Im staatlichen Sektor verdient ein Lehrer ungefähr soviel wie ein Fabrikarbeiter — und der etwa soviel wie eine Ballerina, ein Opernsänger oder eine Geigerin: knappe 60 Mark im Monat.

Das Placet für die Zweitjobs kam, nachdem die Parteiführung in Peking sich selbst in die Ecke manövriert hatte; schätzungsweise 20 Prozent der Arbeitskräfte in staatlichen Fabriken und Büros sind überschüssig. Jetzt fordert die Parteiführung eine radikale Reform, die eine Entlassung von Millionen von Beschäftigten in Bürokratie und Produktion bedeuten würde. Aber es gibt keine Arbeitsvermittlungsstellen in China und keine Arbeitslosenunterstützung; eine Massenarbeitslosigkeit jedoch könnte soziale Unruhen provozieren.

Anstatt also ihre Arbeitskräfte zu feuern, lassen die Chefs durchblicken, daß sie lieber darüber hinwegsehen werden, wenn ihre Angestellten nicht zur Arbeit erscheinen. Angestellte, die nicht arbeiten, können zwar keine Prämien erwarten. Aber sie werden den größten Teil ihres Grundlohnes weiter beziehen und verlieren so nicht die Sozialleistungen wie Wohnung und Gesundheitsversorgung. Auf diese Weise wird das Personal verringert, der Arbeitgeber spart etwas Geld, das Personal ist zufrieden, und die Schattenwirtschaft boomt.

Auf dem „Volksplatz“ in Shanghai gibt es einen privaten Markt, der bis in die frühen Morgenstunden geöffnet ist. Die Händler an den Verkaufsständen arbeiten hier schwarz, bessern ihr mageres staatliches Einkommen mit privaten Geschäften auf. Wieviel Leute in Shanghai haben einen solchen Zweitjob? Cai Lingxing, einer von mehreren Bürgermeistern in Shanghai, weiß es auch nicht. „Das kann man unmöglich schätzen. Zählen etwa auch Leute dazu, die den ganzen Tag an der Börse spekulieren?“ Die jungen Männer, die an den Monitoren im Börsenbüro Wanguo die Aktienkurse studieren, brechen in laute Freudenschreie aus, wenn sich die Kurse nach oben bewegen. Dieser dunkle und geräuschvolle Raum ist der Platz für finanzstarke Händler. Ein 27jähriger Mann behauptet, noch niemals gearbeitet zu haben. „Das hat einfach keinen Sinn. Man verdient einfach nichts. Statt dessen komme ich jeden Tag hierher, das ist wie zur Arbeit zu gehen.“ Catherine Sampson, Shanghai