Wenn am nächsten Montag in Peking der 14. Parteitag der KP beginnt, werden sich die Delegierten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Reformprogramm Deng Xiaopings einschwören lassen, das zwar keine politische Liberalisierung vorsieht, aber alle Macht dem Markt einräumt. Die Parole: „Sozialistische Martwirtschaft“.

China auf dem Kurs der kleinen Tiger?

Vor hundert Jahren führte die Kaiserwitwe Ci Xi Chinas Regierungsgeschäfte, indem sie hinter einem Vorhang saß und ihre Anweisungen gab. Die so sehr auf historische Parallelen bedachten Chinesen und Chinesinnen vergleichen Deng Xiaoping gerne mit der berüchtigten Herrscherin: Auch er hat offiziell kein politisches Amt mehr inne, hält aber dennoch die Fäden der Macht in der Hand. Wenn am 12. Oktober in Peking der 14. Parteitag der Kommunistischen Partei beginnt, wird der 88jährige wahrscheinlich gar nicht zugegen sein. Doch es ist so gut wie sicher, daß die rund 3.000 Delegierten sein Reformprogramm absegnen werden, das unter dem Motto „sozialistische Marktwirtschaft“ den künftigen Kurs in China bestimmen soll.

In Vorbereitung des Parteitages, der alle fünf Jahre stattfindet, tagt seit Montag in Peking das Zentralkomitee der KP hinter verschlossenen Türen. Hier wird der Rechenschaftsbericht von Parteichef Jiang Zemin, der die Reformpläne Dengs in der kommenden Woche darlegen soll, erörtert und verabschiedet. Angesichts der veränderten Lage des „Sozialismus chinesischer Prägung“ berät das ZK-Plenum auch über eine Änderung des Parteistatuts, heißt es aus unterrichteten Kreisen. Niemand erwartet jedoch, daß die Partei einen Beschluß in Richtung auf politische Liberalisierung fällen wird.

Der Markt soll in Zukunft Preise, Löhne und Produktion diktieren. Bislang hat die Führung versucht, sich mit halbherzigen Kompromissen aus der ideologischen Klemme zu winden, indem sie auf einen Mischmasch aus staatlicher Planung und den Kräften des Marktes setzte. Aber als Deng Xiaoping Anfang diesen Jahres wieder aus der Versenkung auftauchte, forderte er die Leute auf, sich nicht mehr darum zu kümmern, was „kapitalistisch“ und was „sozialistisch“ ist, Hauptsache sei das Geldverdienen. China müsse mit den „vier kleinen Tigern“ Asiens gleichziehen, sagte er, und meinte damit die boomenden Ökonomien Südkoreas, Taiwans, Hongkongs und Singapurs. Doch die Hindernisse, auf die die „sozialistische Marktwirtschaft“ in den kommenden fünf Jahren stoßen wird, werden wohl eher praktischer als ideologischer Natur sein. Angesichts eines Wachstums von 12 Prozent warnen chinesische Ökonomen bereits vor einem überzogenen Anheizen der Wirtschaft und erklären, daß es bis zum kommenden Frühjahr zu einer Verlangsamung kommen muß. Darüber hinaus gibt es enorme Unterschiede zwischen den chinesischen Regionen. Vorreiter des wirtschaftlichen Wachstums sind die Küstenstädte des Südens. Der Parteikongreß wird den Provinzen im Inneren des Landes, die dies seit langem fordern, wohl ähnliche Vorzugsbedingungen wie den Küstenregionen einräumen. Doch ohne leichten Zugang zur Außenwelt und nach so vielen Jahren der verlangsamten Entwicklung ist nicht absehbar, daß sich das Wohlstandsgefälle überbrücken läßt.

Es sind die zentralen Regionen des Landes, die die schwerste Last tragen. Wie soll man beispielsweise mit der riesigen Zahl der Staatsbetriebe fertig werden, die Verluste machen? Rund 13.000 Groß- und Mittelbetriebe — oder 35 Prozent aller staatlichen Unternehmen — schreiben offiziellen Statistiken zufolge rote Zahlen. Bereits in den ersten fünf Monaten dieses Jahres haben sie 14,2 Milliarden Yuan (knapp vier Milliarden Mark) Verluste gemacht, 8,5 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Inoffiziell sprechen chinesische Ökonomen aber davon, daß der Anteil der defizitär wirtschaftenden Betriebe eher bei 60 Prozent liegt.

Die Führung eines solch defizitären Betriebs in der zentralchinesischen Stadt Wuhan, einer Textilfärberei, hatte geglaubt, ihre Probleme hätten sich gelöst, als eine Hongkonger Firma einen Mehrheitsanteil erwarb. Doch die Schwierigkeiten begannen, als die Hongkonger Manager auf das ewig ungelöste Problem stießen: Entlassungen. Inoffiziellen Schätzungen zufolge sind mindestens 20 Prozent der Beschäftigten in den Staatsbetrieben überschüssig. Das Wuhaner Unternehmen entließ Hunderte von ArbeiterInnen, die dann vor der Fabrik standen und „Nieder mit dem Kapitalismus!“ riefen.

Erfolgreicher ist die offizielle Sanktionierung von „Schwarzarbeit“, bei der die staatlichen Betriebe ihren Arbeitskräften einen Teil des Grundgehalts und die Wohnungen garantieren. Durch „Schwarzarbeit“ erworbenes Einkommen beträgt Schätzungen zufolge insgesamt 12 Milliarden Yuan im Jahr. Wahrscheinlich werden viele Staatsbetriebe schließen müssen, und der private Sektor wird weiter wachsen. Einer offiziellen Studie zufolge wird die Wirtschaft im Jahr 2000 zu gleichen Teilen aus staatlichen, kollektiven und privaten Unternehmen bestehen. 1978 gab es in China nur 150.000 selbständig Wirtschaftende, heute sind es 21 Millionen. Damals gab es keine Privatunternehmen, jetzt gibt es 100.000, die mehr als zwei Millionen Arbeitskräfte beschäftigen. Bereits im Jahr 1990 stellten die Verkaufsumsätze der privaten Betriebe 19 Prozent an den gesamten Umsätzen, und die industrielle Produktion privater Unternehmen lag bei 5,4 Prozent der gesamten Industrieproduktion. Die zweite große ideologische Kehrtwende ist das Experiment mit der Vergabe von Aktien, die bis vor wenigen Jahren als „kapitalistisches Übel“ abgelehnt wurden. Bislang unterliegt der Aktienmarkt noch äußerst restriktiven Auflagen, es gibt nur zwei Börsen und nur wenige Dutzend Aktiengesellschaften. Aber die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem. Denn viele Leute haben Ersparnisse, die sie nicht in den Banken deponieren wollen, weil die nur niedrige Zinsen anbieten.

Wenn der Parteikongreß in der nächsten Woche tagt, wird es nicht an Warnungen vor Experimenten wie der Aktienvergabe und den Entlassungen bei Staatsbetrieben fehlen. Doch angesichts der durch Subventionen chronisch leeren Staatskasse gibt es neben der Reform keine Alternative. Catherine Sampson, Peking