Somnamboulevard — Wer oder was ist der Künstler? Von Micky Remann

Drunten im Unterbewußtsein gibt es, wie überall im echten Leben, so'ne Stimmungen und solche. Heute haben wir es mal wieder mit einem typischen Fall von solche zu tun, nämlich mit der Frage, ob nicht jeder Traum, ganz gleich ob er luzide leuchtet oder bleiern blubbert, ob er uns in ekstatische Sternendekolletes hebt oder zu Orpheus in die Unterhose senkt, ob er ergreifend oder vermatscht daherkommt, ob er wie auch immer oder aber über Oberammergau kommt: ob nicht also jeder Traum als ein formidables Kunstwerk zu betrachten sei?

Wir sagen: ja doch! Und der Dream-as-Art-Hypothese widerspricht es nicht, daß wir Traumskulpturen in kein Museum hängen können — es sei denn, in ein geträumtes — und auch nicht bei Sotheby's — zum ersten, zum zweiten, zum dritten, den Zuschlag erhält die Dame da hinten im Strohhut mit der Kirschkompottverzierung — versteigern können. Gleichwohl gibt es nichts auf der Welt, was die Kriterien eines Kunstwerks so überzeugend erfüllt wie ein normaler, in seiner fluxhaften Gänze dahergeträumter Traum, sogar schon der halbe, viertel, achtel, und um genau zu sein, auch der sechzehntel und der zweiunddreißigstel. Jedes beliebige Bruchteilchen eines Traumes (daraus ist die somnambule Bruchteilchenphysik entstanden) entspricht einem Schnappschuß aus einer alle Bewußtseinswinkel mit füllhornartiger Opulenz überschwemmenden Mega-Wunschwerk-Kunstwerk-Produktionsmaschine. Die ästhetischen Beweise sind an Eindeutigkeit kaum zu überbieten.

Die Traumkunst ist bunt wie zehntausend Van-Gogh-artige Pfauenschwänze, dramatisch wie ein Shakespearescher Königsmord, rührend wie ein Heidi- Film, mystisch wie die Offenbarung des Johannes (von Dali & Disney gemalt), kalauerig wie Heinz Erhard von Outer Space, gruselig wie ein doppelter Hitchcock und doch so wahr wie ein Schiedsspruch des Herzens. Auf die Verbindungen zwischen Kunst und Traum, Kreativität und Schnarchen hinzuweisen gehört nun auf jeder Vernissage längst zur Plattitüdenparade, jedoch, und darauf möchten wir Somnambulisten hier gehörig pochen, bezieht sich solch feuilletonistisches Geraune nie auf die Echtzeitkunst im Traum oder während des Traumes, oder, was ja auch noch Sinn machen würde, auf die Kunst des Traumes beziehungsweise des Träumens, sondern es bezieht sich immer nur auf die Kunst nach dem Traum oder die Kunst als Folge des Traumes. Da wird dann mit den Beutestücken aus der Traumwelt herumgeprotzt, ohne daß jemand auf die Idee käme, statt der mickrigen Kopie im Wachzustand lieber das 1:1-Original im Schlaf sehen zu wollen. Muß ich noch deutlicher werden? O.k., wenn Du darauf bestehst: Traumkunst ist die reale Urkunst, jedes Wachwelt-Kunstwerk ein Fake und eine Copyright-Verletzung des geträumten Vorbildes. Päng!

Warum der eklatante Rechtsbruch nicht geahndet wird, liegt in dem Umstand begründet, daß niemand die Urheber seines Traumes kennt, geschweige die Urheberinnen. Wer sind die namenlosen Meister, und was treibt sie Nacht für Nacht an die somnambule Leinwand? Die Frage ist übrigens Teil des Kunstwerks.