Mann ist Mann

„BeFreier und Befreite“, Helke Sanders Film über Krieg, Vergewaltigungen, Kinder  ■ Von Christiane Peitz

Meiner Tochter schenkte sie Bonbons, aber dem Vermieter schrieb sie Briefe, daß es bei uns zugehe wie in der Kommune eins. Alt, keifend stand sie hinterm Spion, bespitzelte die Nachbarn, streute Gerüchte, grüßte mit scheinheiliger Freundlichkeit. Eine wie Frau Kling aus der „Lindenstraße“ — gibt es in fast jedem Berliner Mietshaus. Wir mieden sie, haßten sie und nannten sie Blockwart.

Helke Sander hat etwas ähnliches erlebt. Als sie eines Tages mit Frau G. ins Gespräch kam, die sie bei der Polizei denunziert hatte, erzählte diese, sie sei 1945 siebenmal von Russen vergewaltigt worden. Allen Frauen im Haus sei das geschehen.

Das Buch zum Film

Dieses Gespräch, schreibt Helke Sander im Vorwort, sei vermutlich der Auslöser für „BeFreier und Befreite“ gewesen, für Film und Buch über die Massenvergewaltigungen der Roten Armee zu Kriegsende. Erschütterndes Resümee dieser Arbeit: Mindestens 100.000 Frauen sind Ende April, Anfang Mai allein in Berlin vergewaltigt worden, insgesamt knapp zwei Millionen während des russischen Vormarschs auf Berlin. Andere Schätzungen ergeben noch höhere Zahlen, allein quantitativ handelt es sich um ein historisch singuläres Ereignis.

Am Anfang steht also eine Irritation. Das linke Bewußtsein, der Haß auf die Blockwartin, gerät in Konflikt mit dem Feminismus. „Manchmal sagten wir“, schreibt Sander, „daß Frau G. rechtgeschehen sei. Seitdem hat mich die Frage beschäftigt, ob Greuel mit Greueln vergolten oder aufgehoben werden können.“ Die Irritation setzt sich fort. Vergewaltigungen zu Kriegszeiten wurden und werden selten geahndet, Liebesverhältnisse zwischen Soldaten und Frauen eines besetzten Landes dafür um so mehr. Liebe, Kollaboration, aus Selbstschutz geduldete Verhältnisse zu höheren Offizieren und brutale Vergewaltigung sind, so Sander, „oft unentwirrbar vermischt“. Irritation erst recht auf politischer Ebene. Die Angst vor den Russen wurde schon von der Nazi-Propaganda geschürt. Im Kalten Krieg diente das Synonym „Russe: Vergewaltigung“ den Rechten zur Verteufelung des politischen Gegners, für die Linke war das Thema folglich tabu.

Tabuisierung begann 1945

Die Tabuisierung begann schon im Sommer 1945. Damals soll die KP vor dem Hintergrund der Massenvergewaltigungen zwar die Notwendigkeit einer sozialdemokratischen als Alternative zur eigenen „Russen“-Partei diskutiert haben, gleichzeitig erstickte Ulbricht die Diskussion des Paragraphen218 schon im Keim. In „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ zitiert ihn Wolfgang Leonhard: „Eine Stellungnahme von unserer Seite, Abtreibungen als Folge der Zwischenfälle zu gestatten, ist vollkommen ausgeschlossen. Diejenigen, die sich heute über diese Vorkommnisse aufregen, hätten sich lieber aufregen sollen, als Hitler seinen Krieg begann.“ Den überraschenden Sieg der SPD bei den ersten Berliner Wahlen im Oktober 1945 und die Niederlage der SED erklärte die Journalistin und Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich denn auch mit der Entscheidung der Frauen „gegen ihre russischen Liebhaber“, Leonhard selbst kommt nicht auf diesen naheliegenden Zusammenhang. Und noch Ende der Achtziger wurden Sander Fördermittel für Recherchen von seiten diverser Fernsehanstalten mit dem Hinweis abgelehnt, man wolle doch Gorbatschow und der Perestroika nicht in den Rücken fallen.

Filmbilder gegen Buchtext

„BeFreier und Befreite“ — soviel ist nach Lektüre von Sanders Vorwort klar — erzählt von traumatischen Erfahrungen, denen mit einfachen Weltbildern nicht beizukommen ist. Aber dies reflektiert sie nur im Vorwort. Ihre Filmarbeit bleibt eine konfuse Materialsammlung. „BeFreier und Befreite“ tritt an gegen Tabus und Propaganda und arbeitet selbst mit propagandistischen Mitteln. Frau G. spielt im Film keine Rolle.

Zum Beispiel das historische Dokumentarmaterial. Frauen, heute, erzählen von ihren Erlebnissen damals, oft erschütternd nüchtern, scheinbar emotionslos, gar ironisch. Über das Schlangestehen der Russen, von der Mutter, die sich anstelle der Tochter vergewaltigen ließ, den sieben Unterhosen übereinander. „Schändungshumor“ nennt eine diese notwendige Überlebensmaßnahme — eine Art Totstellreflex, den man noch heute, 47 Jahre später, an den Gesichtern ablesen kann. Berichte auch von den Vätern und Ehemännern, die Töchter und Frauen die Schuld gaben und nicht wenige in den Selbstmord trieben.

Allein diese Gespräche machen Sanders Film sehenswert; die meisten Frauen erzählen zum erstenmal.

Aber Sander will mehr. Im Gegenschnitt zu den Interviews montiert sie, immer wieder, Bilder von Berlin in Trümmern, junge Rotarmisten. Gesichter von Soldaten in Großaufnahme, jeder von ihnen, suggerieren die Schnitte, könnte einer gewesen sein. Die konkrete Person spielt keine Rolle. Fotos von geschändeten Frauenleichen, von Deutschen vergewaltigte Russinnen, von Russen vergewaltigte Deutsche — nur an einer Stelle kommentiert die Autorin aus dem Off, daß es sich um Propandamaterial der jeweils feindlichen Macht handelt.

Die Bilder von den potentiellen Tätern verwendet sie unkommentiert. „Gedreht 1945 in Berlin, 1990 in Minsk, 1991 in Berlin“ — schon die Angabe im Vorspann ignoriert den Unterschied der Blickwinkel. 1945 stand Sander nicht hinter der Kamera.

Oder ihre Recherchen in Minsk. „Ich fahre jetzt nach Minsk und frage die ehemaligen Rotarmistinnen, ob sie vielleicht als Soldatin zu einem Mann gesagt haben, ,Mann komm‘“, spricht Sander auf der Zugfahrt in die Kamera. Kein Wunder, daß die meist konservativen gläubigen Russinnen Sanders Frage mit Unverständnis quittieren. Auch die Männer, die sie interviewt, interessieren sie kaum als handelnde Personen. Sie diskutiert allgemein männliche Macht gegen Frauen und sexuelle Unterdrückung, keinen von ihnen befragt sie nach seinem konkreten Handeln, damals in Berlin. Die wenigsten hätten wohl ehrlich geantwortet. Aber spätestens seit Marcel Ophüls' „Hotel Terminus“ wissen wir, daß gerade die Ausflüchte und Lügen oft die ganze Wahrheit enthüllen. Die ehemaligen Rotarmisten hingegen breiten vor der Kamera Theorien aus, zum Beispiel die, daß die Frauen sich freiwillig hätten vergewaltigen lassen, um die Armee mittels Geschlechtskrankheiten zu schwächen: ein patriotischer Sabotageakt.

Unerwünschte Kritik

Als ich, nach der Uraufführung des Films bei der diesjährigen Berlinale, diese Kritik schon einmal in der taz formulierte, hagelte es Proteste: Anrufe, LeserInnenbriefe, bis hin zu einer von Kolleginnen organisierte wenige Tage später veröffentlichten positiven Rezension. Angesichts der Heftigkeit der Reaktionen fragt sich, ob es Filme gibt, aufgrund deren Thematik Kritik unerwünscht ist. Keineswegs unterstelle ich Helke Sander a priori propagandistische Absichten, sondern ziehe Rückschlüsse aus der Montage ihrer Bilder. Ein Film zeigt eben nicht nur Aussagen und Zahlen, sondern Gesichter, Mienenspiel, Menschen. Jeder davon, auch der potentielle Täter, hat das Recht auf so etwas wie Würde vor der Kamera, zunächst jedenfalls. Wenn die Kamera oder die Interviewerin die Personen dennoch mißachtet, muß nachvollziehbar sein, warum — siehe Ophüls.

Das Vorwort ihres Buchs jedenfalls straft Sanders Bilder Lügen, und sei es nur, weil die konfuse Gemengelage aus O-Tönen, Statistik, Krankenakten und Stellungnahmen von Historikern und Zeitzeugen Mißverständnisse nach sich zieht. Die Gespräche mit den Frauen sind in viele kleine Schnipsel zerlegt, anfangs wird jede von ihnen vorgestellt, aber spätestens nach einer Stunde weiß kein Zuschauer mehr, wer was bereits erzählte. In manchen Videoaufzeichnungen sind die Gesprächspartnerinnen farblich und optisch so verzerrt aufgenommen, daß man sich unwillkürlich fragt, wer da die Kamera nicht bedienen konnte. Sander sagt, anders als bei der aktuellen Stasi-Debatte kenne sie keine Täter — eine Lüge, denn sie hat ja in Minsk mit Soldaten gesprochen. Einer der Gesprächspartner antwortet, man könne die Täter von damals nicht belasten, denn das sei ja eine andere Zeit gewesen. Wieder wird da einer vorgeführt, von dem wir nicht erfahren, wer er ist und was er 1945 getan hat.

Zusammenhänge allenthalben

Ein Männerchor singt das Lied vom „Heideröslein“ — eine in Kunstform gegossene Vergewaltigungsphantasie, dazu die Sänger in Großaufnahme. Eine Gruppe von betroffenen Frauen und männlichen Zeitzeugen sitzt im Hinterhof vor einem TV-Bericht über den (heutigen) Handel mit Polinnen, in dem ein Mann stolz seine polnische Frau vorführt und sie mit einer Limousine vergleicht. Klar, auch Mädchenhandel ist eine Form des Sexismus, und irgendwie hängt das mit den Massenvergewaltigungen der Roten Armee zusammen. Mit einer Frau Hoffmann bespricht Sander die Frage nach Entschädigungen und Unterhaltszahlungen für Kinder aus Vergewaltigungen, die kaum einer der betroffenen Frauen zugestanden wurden. Sander dazu: „Man könnte doch vielleicht sagen, daß die Frauen, die heute vergewaltigt werden, nach dem Opferentschädigungsgesetz als Opfer des Geschlechterkriegs gelten.“ Folgt die Geschichte mit Ulbricht und der KP, vom Hörensagen, aus zweiter, dritter Hand. Es fragt sich, warum Sander die beachtlichen politischen Folgen wie etwa den Wahlsieg der SPD nicht nachrecherchiert hat und es bei der vagen Erinnerung beläßt.

Im Buch, herausgegeben von Sander und Barbara Johr, wird vieles klarer. Zum Beispiel die Tatsache, daß die deutschen Soldaten sich in Rußland keineswegs anständiger verhielten — also bei den Russen Rache eine Rolle spielte.

Kinder aus Vergewaltigungen

Im zweiten Teil der dreistündigen Dokumentation spricht Helke Sander mit Kindern aus Vergewaltigungen, Wiltrud Rosenzweig und Konrad Jahr. Den Mann, ein in der Friedensbewegung tätiger Pfarrer, der 1986 die DDR verlassen mußte, fragt Sander nach dem Einfluß seiner Herkunft auf sein Verhältnis zu Frauen. Jahr gesteht ehrlich, er habe auch schon mal eine mit Nachdruck angefaßt. Er steht in einer Kirche, die Kamera fixiert seinen Hosengürtel, fährt dann hoch ins Gesicht. Schnitt. Wiltrud Rosenzweig sitzt mit der Filmemacherin zwischen gelblich ausgeleuchteten Sandbergen, ein sanftes Stimmungsbild. Sander: „...aus einem Gewaltverhältnis zu stammen, was fühlt man da?“ Und Rosenzweig erzählt von der unendlichen Armut und Gewalt, in der sie großgeworden ist. Sanders Art zu fragen und die Inszenierung der Gespräche nehmen die Antworten vorweg. Die Frau ist Opfer, aber Mann ist Mann.

Helke Sander: „BeFreier und Befreite. Krieg-Vergewaltigungen- Kinder“. Mitarbeit: Barbara Johr, Kamera: Hille Sagel, BRD 1992, 192 Min.

Sander/Johr (Hg.): „BeFreier und Befreite“. Verlag Antje Kunstmann, 227 Seiten, 34DM.