Auszeichnung für Tschernobyl-Recherchen

■ Alternativer Nobelpreis an US-Physiker Gofman und ukrainische Journalistin

Stockholm (taz) — Der alternative Nobelpreis wird in diesem Jahr viergeteilt: Er geht an den US-Wissenschaftler John Gofman und die ukrainische Journalistin Alla Jaroshinskaya für ihren Einsatz nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986. Außerdem geht die Auszeichnung an die Organisation Gonoshasthaya Kendra aus Bangladesch für die medizinische Betreuung der Bevölkerung sowie an Helen Mark aus Guatemala für ihren Kampf für die Menschenrechte. Die PreisträgerInnen der mit insgesamt einer Millionen Kronen (rund 270.000 Mark) dotierten Auszeichnung wurden von der „Right-Livelihood-Award-Foundation“ (Stiftung für eine verantwortungsbewußte Lebensweise) gestern in Stockholm bekanntgegeben.

Der amerikanische Atomphysiker und Biomediziner John Gofman sowie die ukrainische Journalistin Alla Jaroshinskaya erhalten den Preis für ihre Bemühungen, die Wahrheit über die Tschernobyl-Katastrophe ans Licht zu bringen — „trotz der massiven Verschleierungstaktik der offiziellen Stellen und gegen eine Desinformationskampagne eines internationalen Forschungsestablishments“. Die Jury forderte mit der Preisvergabe gleichzeitig zu einer unzensierten Informierung der Öffentlichkeit über die tatsächlichen Verstrahlungswerte und ihre gesundheitlichen Auswirkungen auf. Außerdem regte sie an, eine unabhängige Forschungsinstitution zu schaffen, die weitere Studien über die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe erstellen soll.

Als eine Grundlage hierfür gelten die Arbeiten Gofmans. Der mittlerweile emeritierte 74jährige Professor für Nuklearphysik an der Universität Berkeley ist Experte für die Gesundheitsschäden durch niedrigdosierte Strahlen. In einem im kommenden Jahr erscheinenden Buch („Die Strahlenfolgen von Tschernobyl“) will er nachweisen, daß die bislang als tolerierbar angesehenen Strahlengrenzen in Wirklichkeit viel zu hoch angesetzt sind und jeder vierte Krebsfall auf die angeblich ungefährliche Niedrigstrahlung zurückgeführt werden muß. Gofman kritisierte sowohl die seiner Meinung nach verharmlosenden Berichte der Internationalen Atomenergieagentur IAEA über die Tschernobyl-Folgen als auch die von der WHO festgesetzten Strahlentoleranzen.

Alla Jaroshinskaya, mittlerweile Abteilungsleiterin im russischen Presseministerium, entdeckte bei ihrer Arbeit als Redakteurin für eine Lokalzeitung in der ukrainischen Region Zhitomir, wie lasch die Kontrollen der radioaktiven Strahlung nach der Katastrophe waren. Die engagierte Journalistin stellte fest, daß die Anzahl von Strahlenerkrankungen deutlich wuchs, obwohl dies offiziell geleugnet wurde, und daß die BewohnerInnen der Ukraine Lebensmittel erhielten, die in der verstrahlten Zone geerntet wurden. Nicht nur ihre Zeitung weigerte sich damals, die Manuskripte zu veröffentlichen, sondern auch die damaligen Regierungsblätter Prawda und Iswestija. Erst später war ihr Material in der Iswestija nachzulesen; sie wurde populär und 1988 mit einem Stimmenanteil von 90 Prozent in ihrem Wahlkreis in den Obersten Sowjet gewählt.

Obwohl auf Jaroshinskayas Initiative hin der Oberste Sowjet ein Komitee zur Aufdeckung der Tschernobyl-Folgen schuf, dessen Mitglied sie wurde, wurden die Versuche bis heute von der ukrainischen Bürokratie mit allen Mitteln sabotiert. Nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 fand die Journalistin ihren Namen ganz oben auf einer Liste der Personen, deren Verhaftung in der Ukraine geplant war. Selbst unter Boris Jelzin ging zunächst das Verschweigen der Hintergründe und Folgen der Reaktorkatastrophe weiter, wie sie in ihrem im September erschienenen Buch „Vierzig geheime Protokolle der weisen Männer im Kreml“ berichtet.

Helen Mark aus Guatemala erhält den alternativen Nobelpreis „für den von ihr bewiesenen außerordentlichen Mut bei dem Bemühen, die von hochgestellten Politikern gedeckten Mörder ihrer Schwester vor Gericht stellen zu lassen“. Ihr Einsatz für die Menschenrechte und gegen die Regierungskriminalität habe eine „nationale Kampagne ausgelöst, in Guatemala gegen die bislang ungesühnten Morde mit politischen Motiven anzugehen“. Obwohl es Helen Mark geschafft hat, daß der vermutliche Mörder ihrer Schwester Myrna von den USA nach Guatemala ausgeliefert wurde, steht der Beginn eines Prozesses noch in den Sternen: Zwölf Richter haben sich bis jetzt aus Angst um ihr eigenes Leben geweigert, den Vorsitz bei der Gerichtsverhandlung zu übernehmen. Mit der Preisvergabe verbindet die Jury die Aufforderung, Helen Marks Kampf zu unterstützen, damit die Drahtzieher der politischen Gewalt in Guatemala zur Verantwortung gezogen werden können.

Auch mit ihrem Preis für die Gesundheitsbewegung Gonoshasthaya Kendra in Bangladesch will die Stiftung demonstrativ einer Graswurzelbewegung beistehen, die gerade gegen schweren in- und ausländischen Druck anzukämpfen hat. Die von dem Arzt Zafrullah Chowdrury vor zwanzig Jahren gegründete Organisation, so die Jury, nehme „eine Schlüsselrolle in einer für Bangladesch überaus wichtigen Gesundheits- und Arzneimittelversorgung“ ein. Die Organisation stellte ein Netz von „Barfußärztinnen“ nach chinesischem Vorbild auf die Beine und produziert qualitativ hochstehende Billig-Arzneiprodukte, ohne die die Krankenversorgung schon lange zusammengebrochen wäre. 160 ÄrztInnen betreuen ein Gebiet von 180.000 Menschen. Die 1981 errichtete Arzneimittelfirma Gono produziert heute 15 Prozent des Arzneimittelbedarfs von Bangladesch, bei manchen Medikamenten bis zu 80 Prozent.

Einen nicht dotierten Ehrenpreis erhält die finnische Organisation Kylätoiminita, die sich für die Entwicklung neuer, lebendiger Dorfstrukturen einsetzt. Reinhard Wolff