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Eine Stadt lebt mit der Stasi-Erblast

Nach der Veröffentlichung der Namen von rund 4.500 informellen Stasi-Mitarbeitern hat die Stadt Halle zu einem „konstruktiven Konsens“ im Umgang mit der Vergangenheit gefunden  ■ Aus Halle Wolfgang Gast

Für den Rentner Werner Gäbler ist der Ärger nicht ausgestanden. Als Mitte Juli in Halle eine anonyme Liste mit den Namen von rund viereinhalbtausend Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi veröffentlicht wurde, mußte der frühere Direktor der Merseburger Musikschule zu seinem Entsetzen auch seinen Namen darauf wiederfinden. Gäbler, Werner hieß es dort, Deckname „Skribka“. Unter der Registriernummer „VII 1168/78“ war der Stasi-Auftrag mit „Absicherung konspirativer Zusammenkünfte“ beschrieben. „Ich negiere keinesfalls, daß bei uns einer von der Stasi in der Wohnung war und drum gebeten hatte, dort irgendwelche Sitzungen durchzuführen“, erklärte der 69jährige. Nachdem er und seine Frau das Anliegen der Stasi zurückgewiesen hätten, sei es allerdings schon beinahe „zwangsläufig zu der Frage gekommen, wie es dann mit der Musikschule“ stehe. „Was sollte ich tun, ich habe ja gesagt.“ Drei- oder viermal hätten dann Treffen der Stasi in der Schule stattgefunden. Nach wiederholten Einsprüchen und der Meldung des „Besuchs“ beim Rat des Kreises sei dann Schluß gewesen. „Für mich war die ganze Sache tatsächlich vergessen, 14 Jahre sind eine lange Zeit.“

Hat sich Werner Gäbler schuldig gemacht? Mathias Waschitschka (27), Mitglied des Neuen Forum und der Personalkommission an der Hallenser Universität: „Herr Gäbler, vorausgesetzt Sie haben Recht mit ihrer Beschreibung, dann bin ich mir sicher, ihre Gauck-Auskunft wird die Sache genauso bestätigen, und sie werden dort wiederfinden, daß sie widerstanden haben.“ Auch Christiane Berg, Leiterin der Außenstelle der Gauck-Behörde in Halle, hat sich mit dem IM Skribka beschäftigt. Ohne den wahren Namen des IM zu nennen — nach der Veröffentlichung der Liste hat sie mit einigen Medien schlechte Erfahrungen gemacht — beschreibt sie den gleichen Fall. Und kommt zu dem Ergebnis: Die Stasiakten seien in diesem Fall schon fast eine „Ehrenerklärung“ für den früheren Musikschuldirektor.

Aber: ein Einzelfall, eine Ausnahme, keinesfalls die Regel. Eine fehlerhafte Registrierung ist ihr in ihrer Arbeit bisher nicht untergekommen. Wer als IM registriert war, hatte mit der „Firma“ zu tun. Ausmaß und Intensität ließe sich allerdings immer nur im Einzelfall feststellen. Deshalb ist Christiane Berg prinzipiell gegen die Veröffentlichung von pauschalen „Stasi- Listen“. Wie soll es in der Öffentlichkeit eine differenzierte Betrachtungsweise geben können, wenn, wie im Fall des Musikdirektors geschehen, der kleine Mitarbeiter „mit hochgradigen IM in eine Reihe gestellt wird“?

„Die Liste“ hat in Halle wochenlang jede Diskussion bestimmt. Rund eineinhalb Dutzend angebliche Stasi-Zuträger wehrten sich gegen die Veröffentlichung. Sie erwirkten eine einstweilige Verfügung gegen das Neue Forum, das die Liste auslegte, und gegen den Abdruck des eigenen Namens in der Bild-Zeitung. Der Staatsanwalt wurde bemüht, seither laufen Anzeigen gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf Verleumdung und üblen Nachruf. „Eigenartig“, stellen die BürgerrechtlerInnen heute fest: Seit der Staatsanwalt die Kläger angeschrieben und ihnen mitgeteilt hat, daß er ihre Akten lesen müsse, um die inhaltliche Seite ihres Anliegens zu prüfen, sei die Reaktion nur „Schweigen im Walde“.

Nur sechs der 18 haben nach dem Ende der Veröffentlichung ein weiteres Interesse an einer juristischen Klärung der Vorwürfe gezeigt. Die BürgerrechtlerInnen vermuten, daß es den meisten nur darum gegangen ist, den eigenen Namen von der Liste zu tilgen. „18 Leute, die besonders dreist sind“, vermutet die Mitarbeiterin im Hallenser Bürgerbüro der Bundestagsabgeordneten Ingrid Köppe, Heidi Bohley.

Mit einem Klageerzwingungsverfahren wollen die Mitglieder der Bürgerbewegung nun eine gerichtliche Klärung herbeiführen. Entweder wird die Verfügung zurückgezogen, oder es wird zu einer gerichtlichen Klärung der Vorwürfe kommen. Zeigt sich dann, daß eine Registrierung als IM zu Recht erfolgte, steht der Vorwurf einer Falschaussage im Raum — und die ist strafbar.

Anders als die Gauck-Mitarbeiterin Berg ist Heidi Bohley überzeugt, daß es ohne die Listenveröffentlichung zu keiner differenzierten Bewertung der einzelnen IM- Fälle gekommen wäre. Die einzelnen Betroffenen hätten ihre Geschichte erst erzählt, als ihnen nach der Veröffentlichung kein anderer Weg blieb. In Gesprächskreisen zwischen Opfern und Tätern hätten etliche der IM auch angegeben, daß im Kollegenkreis auch Verständnis für die Stasiverstrickung aufgebracht werde. Für Mathias Waschitschka ist die Diskussion nach der Listenveröffentlichung als „ruhiger, natürlicher Prozeß“ verlaufen. Es habe in der Stadt einen „konstruktiven Konsens“ gegeben, die befürchteten Übergriffe auf die früheren Spitzel sind ausgeblieben. Einzig sichtbares Zeichen der Wut war ein Pappschild, das Unbekannte nach den Namensnennungen einem Ehepaar vor das Gartentürchen stellten. „Stasi- Ehepaar“ stand darauf und der Deckname „Linde“.

Daß die Inoffiziellen solange geschwiegen haben, führen viele auch darauf zurück, daß ihnen von der Stasi versichert worden war, die Akten seien vernichtet worden. Peter Romanowski, Oberstleutnant und vierter Mann in der Hierarchie der Stasi-Bezirksverwaltung Halle, gab Anfang September freimütig zu, „daß ich allen meinen IM, die auf mich zugekommen sind, geraten habe: Schweigt, solange ihr könnt“. Offiziell begründete er dies mit der sozialen Ausgrenzung. Einer der Bürgerrechtler will es anders gehört haben: „Verdient euer Geld, solange es noch geht.“

Letzteres haben zumindest die ehemaligen IM im Bereich der Stadt-Bediensteten zu praktizieren versucht. 80 von ihnen wurden überwiegend im Kulturbereich enttarnt. Kein Theater, keine Galerie in der Kulturstadt, in der nicht der Leiter oder der Stellvertreter für die Stasi gespitzelt hat. Von 55 der Betroffenen trennt sich die Stadt zu Jahresende mit einem Auflösungsvertrag für das Arbeitsverhältnis. Nach einem Gespräch und einer anschließenden Bedenkzeit baten die Betroffenen selbst um ihre Entlassung. In elf Fällen räumten die Betroffen ein, für die Stasi tätig gewesen zu sein. Einem Auflösungsvertrag wollten sie allerdings nicht zustimmen. Die Stadt reagierte mit fristloser Kündigung. In den restlichen 14 Fälle muß erst die Überprüfung durch die Gauck-Behörde abgewartet werden. Die Mitarbeiter gaben an, zu Unrecht auf der Liste zu stehen.

Abgesehen von der anonymen Form werde, wie Magistratssprecher Wigmar Bressel sagt, die Listenveröffentlichung im Rathaus positiv gewertet. Die Verwaltung sei so zu einer umgehenden Reaktion gezwungen worden. Keiner wird der Stadt in nächster Zeit mehr vorwerfen können, Stasi- Leute zu beschäftigen. Das könnte sich vielleicht sogar zu einem „Standortvorteil“ entwickeln.

Die IM-Diskussion ist in Halle im wesentlichen ausgestanden. Seit dem explodierenden Ausländerhaß sehen sich BürgerechtlerInnen und Politiker in Halle mit neuen Problemen konfrontiert. Gegen die Wohnung einer vietnamesischen Familie wurden in der Innenstadt bereits Brandsätze geschleudert, eine Kulturkneipe wurde von Rechtsradikalen in Schutt und Asche gelegt. Und jetzt wird unter den 300.000 Einwohnern Halles über die Einrichtung eines über 1.000 Plätze für Flüchtlinge fassenden Heimes in der Plattenbausiedlung in Halle-Wörmlitz diskutiert.

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