Neue Jagdszenen aus dem alten Niederkreuzberg

■ Mit skandalöser Hartnäckigkeit versucht die Grundstücksverwaltung Kreuzberg, Berliner Künstler aus ihren lukrativ gelegenen Ateliers in städtischen Häusern zu vertreiben

Der Bewohner des Wilhelm- Bendow-Hauses am Tempelhofer Ufer 32 traute seinen Augen nicht, als er am Morgen des 26.8.92 aus der Tür trat. Da standen drei mit Gartenscheren bewaffnete Arbeiter im Vorgarten und schnitten die Rabatten nieder. »Auftrag der Bezirksverwaltung«, bellte Vorarbeiter Martin. »Die auf den Gehweg hängenden Pflanzen müssen weg.« Der heftige Einspruch der hinzueilenden Bewohner stachelte ihn offenbar an. Martin hackte um sich, als gelte es, einem Alien den Garaus zu machen. Als nach einer halben Stunde eine Naturschützerin eintraf, war das Großstadtbiotop dilettantisch gerupft.

Die Auftraggeberin für den vandalen Vorgarten-Akt war Frau Beyer vom Grundstücksamt Kreuzberg, das das landeseigene Haus verwaltet. Frau Beyer und die Mieter des Hans-Bredow-Hauses mögen sich nicht. Seit Jahrzehnten schon wird das Haus traditionell von nonkonformistischen Kunstschaffenden bewohnt. In den 20er Jahren lebte der Kabarettist Wilhelm Bendow dort, später unter anderem die »Ton, Steine, Scherben«. Heute wird das Haus vor allem von Künstlern genutzt, die dort ihre Ateliers betreiben.

Frau Beyer mag auch den Garten (»ungeordneter Wildwuchs«) nicht. Selbst eine vom Umweltamt bereits bewilligte und finanziell bezuschußte Hofbegrünung lehnt die Beamtin (»Ich entscheide alles allein«) mit dem fadenscheinigen Argument ab, der zukünftige Hausbesitzer sei unklar. Stadtrat Wulf Peter, Beyers Vorgesetzter, hat noch Bürokratischeres auf Lager: Ihm läge kein schriftlicher Antrag des Umweltamtes vor. Kein Wunder, stöhnt Sachbearbeiter Thomas Pawelec vom Umweltamt. Um den Antrag zu stellen, braucht er Frau Beyers Zustimmung. Druck will er in der Köpenick- Posse jedoch nicht machen: »Wir glauben nicht, daß man Freunde von Zuchtrasen und Blumenzwiebeln überzeugen kann.« Thomas Pawelec wartet lieber, bis das Haus wie ursprünglich vorgesehen zum Jahresende an eine Wohnungsbaugesellschaft übertragen wird.

Wobei man beim eigentlichen Problem angekommen ist. Denn das Gartengezerre ist nur der Nebenschauplatz eines bizarren Kleinkrieges, den das Grundstücksamt Kreuzberg gegen die Künstlerhäuser am Tempelhofer Ufer 32 und in der Lindenstraße 39 betreibt. Mit der Maueröffnung und der darauffolgenden Mietpreisexplosion sind die zentral gelegenen Objekte mit einem Schlag wertvoll geworden. Die billigen, als Gewerberäume angemieteten Ateliers könnten erheblich teurer vermietet werden. Dann allerdings nicht mehr an die wenig betuchten Künstler. »90 bis 95 Prozent von ihnen können selbst die Untergrenze ortsüblicher Gewerbemieten nicht bezahlen«, sagt der Atelierbeauftragte Bernhard Kotowski. Gemeinsam mit dem Berufsverband Bildender Künstler (BBK) drängte er den Senator für Kultur, Ulrich Roloff-Momin, um Übernahme der Häuser in seine Verwaltung, um die weitere kulturelle Nutzung zu gewährleisten.

CDU, SPD, AL und sogar die Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg gaben indes rührige Willenserklärungen ab, dem Ateliernotstand entgegenzuwirken. Doch die Bezirke sind nicht weisungsgebunden. So schritt der Kreuzberger Grundstücksamtschef Behne, Kollege von Peter und Beyer, ungehindert zur fröhlichen Mieterhöhung. Er forderte — unter Berufung auf eine generelle Anordnung des gebeutelten Finanzsenators, ortsübliche Mieten einzutreiben — von den Gewerbemietern beider Objekte eine 20prozentige Mietsteigerung zum Januar 1992. Das sei schließlich unter den ortsüblichen Vergleichsmieten, und wer das nicht einsehe, müsse leider gehen.

Erneut schritten die Künstler zum Kotau beim Finanzsenator und rangen ihm schließlich ein Kündigungsmoratorium ab, bis die Übergabe der Häuser an neue Träger geklärt sei. Im Dezember 1991 bat Finanzsenator Elmar Pieroth die Bezirksverwaltungen, stillzuhalten und nicht zu räumen.

Doch im Juli 1992 wurde es dem Kreuzberger Grundstücksamts- Trio Behne-Peter-Beyer zu langweilig. Sie überraschte die Mieter am 02.07. mit erneuerten Kündigungsdrohungen. Der Affentanz begann von neuem: Künstler rennen zum Kultursenator, Kultursenator insistiert beim Finanzsenator, Finanzsenator spricht erneutes Moratorium aus. Noch einmal war das Grundstücksamt Kreuzberg gestoppt. Bis Pieroth am 21. Juli ablehnte, die beiden Häuser dem Kultursenator zu übergeben; Begründung: Mischnutzung.

Der Berliner Atelierbeauftragte Kotowski ist erbost: »Jetzt muß eine politische Lösung her, die Kuh muß vom Eis.« Auf eine entschiedene Reaktion oder eine schlüssige Konzeption des Kultursenats, der gerne große Summen für prestigeträchtige Veranstaltungen lockermacht, warten die bedrohten Künstler seither vergebens. »Mit 20 Millionen Mark könnten wir überleben«, so Herbert Mondry vom BBK, »das sind zwei Prozent des Kulturhaushaltes oder 4,4 Prozent dessen, was das Land für seine Theater ausgibt.« Abteilungsleiter Bernd Mehlitz (Kultursenat) versichert indes, daß an einer konzeptionellen Lösung gearbeitet werde, etwa an der Übertragung der Häuser an die Atelier GmbH.

Den Künstlern sind die Lippenbekenntnisse des Kultursenats zu vage. Sie sind das halbherzige Gewurstel auf der Verwaltungsebene leid und wollen sich nicht mehr von Moratorium zu Moratorium schleppen. Doch selbst die SPD scheut sich, das Atelierproblem endlich zu einer grundsätzlichen politischen Frage zu erheben.

Im Grundstücksamt Kreuzberg wird inzwischen fleißig geschafft. Einer Mieterin der Lindenstraße, die um Erlaß der Mieterhöhung bat, wurde unter Vorgaukelung großen Mitleids durch Frau Beyer (»Sie Ärmste, können Sie sich da noch eine Wohnung leisten?«) entlockt, daß die Betreffende in dem von ihr angemieteten Gewerberaum auch wohnt. Arglos unterschrieb die Künstlerin das Gesprächsprotokoll. Eine Woche später kam die Kündigung wegen unerlaubten Wohnens in Gewerberäumen.

Am 03. Oktober fanden auch die Gewerbemieter vom Tempelhofer Ufer, kurz darauf die der Lindenstraße den nächsten Affront im Briefkasten. Binnen zweier Wochen sollten sie die neuen Verträge unterzeichnen, oder die Kündigung werde durchgesetzt. Rückwirkend zum Januar 92 fallen 20 Prozent mehr Miete an, zum Januar 1993 weitere 33 Prozent. Zur Begründung hatte Herr Peter eine geniale Idee: Die Betroffenen fallen nicht unter das Moratorium des Finanzsenats, weil sie vom Kultursenat nicht nach Paragraph 63 Landeshaushaltsordnung als förderungswürdig eingestuft sind. Dies gilt in bezug auf Ateliersubventionierung jedoch für keinen einzigen Berliner Künstler. Was wiederum nicht das Problem des Herrn Peter ist, sondern eine Schlamperei der Kollegen von der Kultur. »Bislang war eine solche Einstufung nicht notwendig, da die Billigvermietung von Ateliers an Künstler von den Bezirksämtern wohlwollend akzeptiert wurde«, erklärt der Pressesprecher des Finanzsenators, Thomas Butz.

Stadtrat Peter will aber nicht mehr wohlwollend sein. Daß er Künstler vertreiben will, sei allerdings »völliger Quatsch«: »Wirkliche Künstler, die professionell Kunst betreiben, will ich schon fördern, aber nicht angebliche Künstler, irgendwelche Drahtverbieger«, so der selbsternannte Kunstexperte. Da sage noch einer, Beamte hätten keine Phantasie. Herbert Mondry, Bewohner des Tempelhofer Ufers, ist indes das Lachen vergangen. Sein Kommentar zu den Kündigungen: »Es ist wieder Jagdzeit.« Michaela Schießl