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Im Meer der Geräusche

Zu Pierre Schaeffers 80. Geburtstag sind vier CDs mit Dokumenten der Musique concrète erschienen  ■ Von Frank Hilberg

Das Foto zeigt einen telefonierenden Mann mit ziemlich großen Ohren — mit so großen Ohren, daß der Telefonhörer in dem fleischigen Trichter zu verschwinden droht. Es illustriert anekdotenträchtig das erste Postulat der Musique concrète: den „Vorrang des Ohrs“. Der Mann auf dem Foto ist Pierre Schaeffer, Erfinder der „konkreten Musik“. Die Geschichte beginnt 1948 mit einem Konzert im Studio des französischen Radios ORTF: drei seriös wirkende Herren (Schaeffer, Pierre Henry und Jaques Poullin) treten zum Podium, wo mehrere Grammophone darauf lauern, loszubrüllen. Eine Nadel senkt sich in den gekerbten Kunststoff, medienspezifisches Knistern, Spannung, plötzlich — eine Lokomotive! — die „Etude aux chemins de fer“ ertönt: die erste Komposition aus Umweltgeräuschen überhaupt.

In der Pionierzeit der elektroakustischen Musik waren die Tonbänder noch so unförmig, daß es durchaus nicht leichter gewesen wäre, die Maschine zum Bahnhof zu tragen, als die Lokomotive ins Studio. Helfen ließ sich da am besten mit Schallplatten. Selbstverständlich prägt das Instrumentarium den Inhalt (wenn die Computermusikanten das endlich einmal einsehen wollten!), und so bestimmt eben auch die Grammophonnadel die Komposition: Die rhythmischen Figuren entstehen nach dem Prinzip der „geschlossenen Rille“, ein Resultat, das dem Effekt einer hängenden Platte ähnelt, nur eben — denn schließlich handelt es sich um eine Komposition — kontrolliert.

Die „konkreten“ Klänge — die Geräusche aus dem Alltag, Natur und Industrie, sowie die Musiken aller Arten und Zeiten — variieren mit Art und Zahl der Platten, die gleichzeitig aufgelegt werden. So kann es zu der merkwürdigen Begegnung von Drehkreuz, Kasserolle und Würfel kommen. Daß diese Klangelemente nicht beliebig aneinander gereiht werden, sondern nach festem Plan gefügt sind, kann, wer seinem Ohr nicht traut, anhand der Partitur kontrollieren. Die Frage des „Passens“ stellt sich eben auch dort, wo Tonregeln nicht mehr greifen.

Mit den frühen Etüden („Schwimmübungen im Ozean der Klänge“) entwickelten Schaeffer und Henry Vokabular und Techniken, die die Klangsprache der Hauptwerke bestimmen. Hier wäre gleich die „Symphonie pour un homme seul“ zu nennen, von der aber nur auf den mit „Erotica“ überschriebenen Satz hingewiesen sei, ein zart ineinander verklammertes Stimm- und Keuchduett, wie es nicht oft in der Öffentlichkeit zu hören ist.

Einen handfesten Eklat verursachte „Orphée 53“, ein „Spectacle Lyrique“, bei der Erstaufführung in Deutschland. Schaeffer: „Die ,Schlacht von Donaueschingen‘ im Jahr 1953 wurde zu einer Art Waterloo für die Musique concrète... Das entschieden barocke Werk ließ eine charmante Haitianerin (Eurydice) in einer Begräbnisdekoration zu den konkretesten Klängen tanzen, Philipe Arthuys, Träger venezianischer Obelisken, brachte, von elektronischen Glucksern begleitet, vor der Aschenurne ein Trankopfer dar, während Geigen nach reinster Zigeunermanier Krokodilstränen in die Kulissen vergossen. Das war zuviel für unsere Deutschen, die zunehmend überrascht und entrüstet reagierten... Das Stück hatte einen zunehmend unausstehlicher werdenden Lärm zu übertönen, was unseren Reglern bis zum Schluß gelang: Wieviel Dezibel sind an diesem Tage vergeudet worden! Die Schlacht endete aus Mangel an Kämpfern... So also verloren wir und gerieten auf Jahre hinaus in internationalen Mißkredit, während am Kölner Himmel für den elektronischen Erbfeind eine segensbringende Morgenröte aufging!“

Warum das Studio für Elektronische Musik des WDR in Köln als Antipode dasteht und warum eine derart martialische Sprache gebraucht wird, erklärt sich aus dem Grabenkrieg um die wahre Art zu komponieren. Stockhausen, Boulez und andere Meister der polemischen Zunge fochten mit theologischem Eifer um die reine Lehre der Kunst, die da heißt: Entweder die Musik ist bis ins kleinste Detail durchkonstruiert, oder sie ist keine. Ein Komponist aber, so meint Stockhausen, „der irgendwelche zufällig auf Tonband vorhandenen Klänge zusammenschneidet, unterscheidet sich in nichts von den amateurhaften Tonarchiven der ,musique concrète‘, die bisher durch den Mangel an kompositorischer Vorstellung und Konsequenz Schiffbruch auf dem Wege zu ernsthaften Problemen des Handwerks erlitten.“

Starker Tobak. Nur, den Geräuschen als kompositorisches Material ist auch die Kölner Schule nicht Herr geworden. Diese hatte zwar eine ausgetüftelte, aber nicht sehr weitreichende Brücke ins Meer der Geräusche getrieben: lediglich, was mittels der damaligen Eletronik zusammengesetzt werden konnte, erhielt die Weihe, als Stoff zum Komponieren tauglich zu sein. Da war der Versuch, im „Ozean der Klänge“ zu schwimmen, also auf den festen Boden einer ausformulierten Kompositionstechnik zu verzichten, schon mutiger — den „Schiffbruch“ braucht der Schwimmer nicht zu fürchten. Hauptargument gegen den Einsatz von vorgefundenen Geräuschen war die Befürchtung, sie könnten den Hörer von den wesentlichen Klangstrukturen ablenken. Sollte also splitterndes Glas zu hören sein, wie könnte da der Rezipient anderes, als an den letzten Haushaltsunfall denken? Allerdings bedarf es keines konkreten Bezugs zum Alltag, um einen naiven Hörer abzulenken — spielt man einer beliebigen Horde von Pennälern elektronische Musik (beispielsweise von Stockhausen) vor, gehören Assoziationen wie „Gefurze“ oder „Klospülung“ noch zu den Harmlosigkeiten. Gegenstand der Kritik kann weder das Material noch die verwendete Technik und erst recht nicht die Haltung der Rezipienten, sondern einzig das Resultat sein.

Wäre das Kainsmal „Postmoderne“ damals schon geprägt, die Musique concrète wäre wohl ebenso sicher mit ihm geschmückt worden, wie es die „Noise Art“ unserer Tage wurde. Zwischen beiden gibt es in der Tat einige Parallelen. Mit der Entwicklung von Sound Samplern steht mittlerweile ein subtiles und wirkungsvolles Verfahren zu Gebote, um die konkreten Klänge für Klangmontagen, Hörfilme und andere Formen der Audio Art zu bearbeiten.

Daß die Musique concrète bis heute eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, hängt auch damit zusammen, daß nur selten und nur fragmentarisch Aufnahmen zugänglich waren und die Werke kaum in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen sind. Mit dem „l'oeuvre musicale“ von Pierre Schaeffer könnte sich das ändern: vier CDs (eine davon enthält nur Sprachdokumente), die in zwei Boxen zusammen mit einem Buch (französisch auf Büttenpapier) in einem massiven Karton stecken. Handelt es sich um eine Gesamtausgabe? Bei weitem nicht. Sie war wohl auch nicht angestrebt, was bei der Unzahl der verschiedenen Versionen, Revisionen, Nachschöpfungen und Kooperationen allzu verständlich ist. Vielmehr handelt es sich um eine Jubiläumsedition zu Schaeffers Achtzigstem, die in ihren dokumentarischen Teilen ein derartiges Durcheinander ist, daß es wie die Nachschöpfung einer der Collagen Schaeffers wirkt. Das Bild mit den großen Ohren findet sich auch darin.

Pierre Schaeffer: „l'oeuvre musicale“. INA C 1006-1009 (4 CD).

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