■ Sozialstaat als Recht oder neoliberale Barmherzigkeit?
: Attentat auf die Demokratie

Die Logik der derzeitigen Manöver zur „Sanierung“ der Staatshaushalte versucht erklärtermaßen (wie in Italien) oder unerklärtermaßen (wie in vielen anderen Staaten), die Gelegenheit eines nicht mehr erträglichen Haushaltsdefizits zu benutzen, jener Gesellschaftsform das Lebenslicht auszublasen, in der eine Reihe grundlegender Rechte für alle gelten und zu der jeder nach seinem Einkommen beitragen muß. Statt dessen entsteht eine zweigeteilte Gesellschaft, mit zwei Ebenen, eine für die Besitzenden, die andere für die Ärmeren. Der bisherige „Sozialstaat“ wird zum „karitativen Staat“, zum „mildtätigen Staat“; das bedeutet, daß die staatlichen Dienstleistungen mindestens auf zwei, wenn nicht mehr Qualitätsstufen erfolgen: gute für all jene, die selbst bezahlen können, und weniger gute für jene, die das nicht können.

Während im Sozialstaat jeder seine Steuern an den Staat zu bezahlen hat, der seinerseits für alle Bürger die gleichen Dienstleistungen zur Verfügung stellt, sieht die „Reform“ der Neoliberalen (wie in Italien die gegenwärtige Regierung Amato) vor, daß künftig die Reichen alle Dienstleistungen, die sie sich erlauben können, zwar selbst bezahlen müssen, dafür aber in ihrem Eigentum, ihren Gütern, ihrem Einkommen und ihrem Verdienst massiv beschützt und geschützt werden. Die weniger begüterten Klassen dagegen werden durch den Fiskus bis zur letzten Lira verfolgt und ausgepreßt — was bei dieser Kategorie insofern leicht ist, weil man ihnen das Geld direkt aus der Lohntüte abknapsen kann. Als „Ausgleich“ dafür erhalten sie gerade mal noch diejenigen Dienstleistungen, die der Staat seinerseits bereitstellen zu können glaubt.

Dies ist eine prämoderne Vorstellung (oder auch eine postmoderne, was mittlerweile dasselbe bedeutet) einer Gesellschaft, deren Hierarchie sich dem Einkommen gemäß aufbaut und in der die grundlegenden Bürgerrechte außer Kraft gesetzt sind. Was aber besonders schlimm an dem Ganzen ist: all dieser Rückschritt ist derart vom Neoliberalismus infiziert, daß die aktuelle Umwälzung (oder besser Gegen-Umwälzung, weil es gegen den modernen Staat geht) über die Haushaltsgesetze erfolgt und damit keinerlei grundlegende politische Diskussion einhergeht — als handle es sich dabei um einen Akt verfassungskonformer Geschäftsführung und nicht um eine fundamentale Veränderung der politischen Ordnung.

So erhalten Worte wie „Gleichheit“ oder „Ungleichheit“ heute eine völlig andere Bedeutung, als sie es seit Kriegsende und bis in die achtziger Jahre hinein hatten, also seit der Zeit zwischen 1945 und 1948, als im Westen durchgehend demokratische Verhältnisse eingeführt wurden. Heute bedeutet „mehr Gleichheit“ für die Neoliberalen nur noch „mehr Mildtätigkeit“, während dasselbe Wort für die Verfassungsväter die Tendenz zur Vervollkommnung der Gleichheit fundamentaler Rechte für alle hieß — Arbeit, Wohnung, Schule, Dienstleistungen: für sie ging es um die Beseitigung ständiger Ungleichheiten in der Gesellschaft.

Läßt man dieses Prinzip aber fallen, was ist das anderes als eine gewalttätige Umwälzung der Verhältnisse?

Ganz offenbar macht sich das aber niemand von all denen klar, die sich so indigniert über die faulen Eier und Tomaten, Schrauben und Münzen erregen, die erregte Menschen bei Demonstrationen auch auf Gewerkschaftsbosse warfen. Wobei diese Würfe ihrerseits ebenso dumm wie die körperlichen Angriffe nutzlos und verwerflich sind: auch sie dienen zur Vernebelung dessen, was wirklich geschieht — nämlich ein zwar nicht physischer, aber nicht weniger tief verletzender Angriff auf den Bürger durch den per Gesetz erfolgenden Entzug von Mitteln gegenüber den weniger Besitzenden.

Im übrigen ist es schon erstaunlich, daß bei uns diese Logik vom Typ Reagan nun genau in der Zeit aufkommt, in der sie in den USA selbst als überwunden über Bord geworfen wird...

Wir stehen wieder an demselben Punkt wie 1945 und 48: der Status unserer Republiken ist in Gefahr. Doch dies weder durch einen ausufernden Sozialstaat noch durch ein paar Randalierer bei Demonstrationen, sondern wegen dieses kaltschnäuzigen Planes, den der in den letzten zwanzig Jahren entstandene Block der mittleren und oberen Schichten ausgeheckt hat.

Für uns bedeutet das: Entweder wir beginnen, dagegen anzukämpfen — und Italien ist vielleicht das einzige Land, wo das geschehen kann, weil selbst die mittlerweile verarmten Fahnen der Linken und der Gewerkschaften noch immer eine große Volksbewegung hinter sich haben —, oder wir werden untergebuttert.

Es gibt Momente, in denen man entweder alles rettet — oder gar nichts. Rossana Rossanda

Die Autorin war bis 1969 eine der Größen der Kommunistischen Partei, setzte sich nach dem Reformkurs der KPI ab, gehörte dann der Gruppe „il manifesto“ an, ist Mitbegründerin der gleichnamigen Zeitung und deren bekannteste Leitartiklerin.