■ Tour d'Europe
: Die Währungslüge

Europa-West, jenes der EG, hat sich daran gewöhnt, mit Gehbehinderten zu leben — wahlweise werden die Griechen, die Italiener oder auch die Engländer zu den Fußkranken Europas erklärt. Beweise dafür: der ständig fallende Kurs ihrer Währungen. Hilfsweise: ungenügendes Bruttosozialprodukt, die großen Löcher im Haushalt, die Inflation.

Erklärungen dieser Art haben alle Chance, als Superlüge in spätere Geschichtsbücher einzugehen. Denn sieht man genauer hin, ist es gerade jenes Land, das angeblich am gesündesten dahinmarschiert, das an allen Ecken und Enden kracht: Deutschland. Nahezu alle Indikatoren, die in anderen Ländern als Krankheitssymptom gewertet werden, sind im strotzenden Germanien mindestens ebenso negativ, in vielen Bereichen sogar schlechter.

So verbessert sich etwa in allen „fußkranken“ Ländern das Bruttosozialprodukt deutlich — nur in Deutschland ist das einst so unverbrüchliche Wachstum im Schwinden: Italien zum Beispiel legt derzeit von einem Prozent im vergangenen auf über zwei Prozent in diesem Jahr zu; Großbritannien, 1991 bei minus 2,3 Prozent, nähert sich wieder dem Nullpunkt, mit Tendenz ins Positive; und Frankreichs Wachstum ist von nur einem Prozent im vergangenen Jahr auf zweieinhalb in diesem angestiegen. Deutschland aber, das 1990 bei 4,5 und 1991 noch bei drei Prozent stand, ist auf weniger als ein Prozent gesunken, Tendenz weiter fallend.

Dasselbe Bild bei der Inflation: Lag der Anstieg der Verbraucherpreise in Italien noch Mitte der 80er Jahre bei 16 Prozent, ist die Teuerung inzwischen auf 5,2 Prozent gesunken; in Großbritannien von fast zehn Prozent 1990 auf unter vier Prozent; und in Frankreich ist die Quote von über drei auf unter drei Prozent gesunken. Nur in Deutschland steigt die Inflation: Von 1988 noch 1,3 Prozent über 2,8 Prozent 1990 nähert sie sich mittlerweile der Vier-Prozent-Marke.

Wie man es auch dreht und wendet: Das derzeitige Desaster in EG-Europa ist nicht mit normalen nationalökonomischen Daten zu erklären. Es ist ausschließlich die Folge zweier Entwicklungen, von denen die eine auf einem freien Entschluß, die andere auf freier Ausnutzung der Gegebenheiten beruht: die für Anleger aus allen Ländern attraktive deutsche Hochzinspolitik der Bundesbank bei immer noch erträglicher Inflationsrate — und die damit betreibbare Spekulation. Ein ziemlich einmaliger Vorgang, daß bei sinkendem Bruttoinlandsprodukt und noch immer laufender Gelddruckmaschine der Wert einer Währung steigt. Sprüche wie „Durch die wirtschaftliche Lage war der stabile Kurs der Lira nicht gedeckt“, so unlängst der Spiegel, sollten daher tunlichst unterbleiben — oder zumindest ergänzt werden durch den Hinweis, daß „durch die wirtschaftliche Lage der derzeitige Hochkurs der Mark nicht im mindesten gedeckt ist“. Werner Raith