Mit Willy auf Wahlkampftour 1961

Ein Wahlkampfleiter, der nach dem Mauerbau vergessen wurde, erzählt über die von ihm organisierten Reisen in den Westen  ■ Von Norbert Adrian

Berlin. 1961 unternahm Willy Brandt zahlreiche Wahlreisen durch Westdeutschland. Ich hatte die Aufgabe, einige dieser anstrengenden Fahrten durch die Dörfer und Städte zu organisieren. Wir fuhren in eine Troß von rund 20 Autos durch die Lande. Klaus Schütz hatte diese Form des Wahlkampfs in den USA studiert. Willy Brandt hatte in seinem weißen Mercedes einen hohen Verwaltungsbeamten aus Berlin, der den Kontakt zu seinem Amt aufrechterhielt. Der konnte tausend Witze erzählen. Immer wenn der völlig übermüdete Wahlkandidat morgens das Auto bestieg, schlug seine Stunde. Sie hörten Willys schallendes Gelächter und wußten dann, es würde ein guter Tag werden. Mein Gott, wenn der lachte, war das ergreifend. Ein Nordlicht wie Willy, diszipliniert scheinend, hart, wenn der durch eine kräftige Pointe ins Lachen explodierte, puterrot, bis daß die Tränen kamen, das ergriff uns gleichermaßen. Willy Brandts Charme wurde da deutlich auf dem Hintergrund einer Herbheit, die wir Südländer oft als dröge empfinden. Die Frauen, die ihn schnell umgaben, mochten das. Dies aufmerksame Zuhören, dieses in die Augen schauen, wenn die Augen lachten und das Gesicht sich kaum veränderte. Sie fühlten sich angenommen, auch wegen der Zurückhaltung, mit der sein Charme sich den Menschen näherte.

Der Mann, der sich für alle Zeit nahm

Es wird wohl kaum einer glauben, daß er ein sehr gefühlvoller Mensch war, ja sogar ein sentimentaler. Einmal wurde in einem Dorf das Auto von einem Spielmannszug aufgehalten, der ihm ein Ständchen bringen wollte. Wir drängten zur Eile. Er aber ergriff einen Hocker, setzte sich hin und lauschte lange. Ich vergesse nie sein Gesicht. Es war, als lauschte er in seine Jugendzeit, die Zeit in der sozialistischen Jugend, wo Gefühl, Ideologie und Denken noch als eine Einheit erlebt wurden. Ich sah ihm in diesem Moment an, daß er, der Pragmatiker, der nach so langem Leiden im Exil den Weg von den sozialistischen Emotionen zu einem Pragmatiker von angelsächsischem Format gefunden hatte, niemals den aufrichtigen Jugendgesandten von damals vergessen hatte. Das machte ihn zu einer exemplarischen Integrationsfigur, die unter anderem auch zwischen der Jugend und dem Alter, zwischen rechts und links der Partei vermitteln konnte. Die Linke und auch Wehner haben diese Kraft seiner Vermittlungsfähigkeit kaum je erkannt.

Einmal habe ich mir auf einer Wahlreise etwas geleistet, was für einen Helfer unverzeihlich ist, aber mir doch einen tiefen Einblick in seine Souveränität verschafft hat. An einem hellen Sonnentag stehe ich auf einem Flugplatz oberhalb von Veits-Höchheim und warte auf den Kanzlerkandidaten. Unten warten bei Musik 20.000 Leute. Wer nicht kommt, ist Willy. Ich merkte, wie ich einen Angstbauch bekam. Endlich ist er da, und ich explodierte. »Bist wohl nicht aus dem Bett gekommen? Schließlich willst Du doch Kanzler werden, oder nicht?« Die anwesenden Honoratioren erstarren. Mittags beim großen Essen ruft er laut durch den Saal. »Adrian, her zu mir.« Wir gehen in einen Park, alle schauen sorgenvoll mir nach. »Das mußte ich inszenieren, um meine Autorität wiederherzustellen. Wie kannst du denn auch so etwas sagen. Schließlich habe ich wochenlang täglich 30 Reden halten müssen, Hunderte von Händen schütteln, und ich durfte mir nie etwas Persönliches leisten, weil mich alle beobachten. Ich habe das manchmal satt. So, jetzt habe ich dich zur Ordnung gerufen. Nun gehen wir zurück zu den anderen.«

Der Mann, den alle Frauen liebten

Einmal fuhren wir auf einem illuminierten Dampfer auf dem Rhein. Großes Essen, Kultur, Tanz. Die Parteihonoratioren waren mit Frauen und Töchtern dabei, alle in Festkleidung. Nach den Kulturdarbietungen kam der Tanz. Mit wem wird er zuerst tanzen? Er stand auf und forderte eine relativ attraktive Sängerin auf. Die Frauen der Prominenz reagierten sauertöpfisch. Als er dann sogar ein zweites und ein drittes Mal mit dieser »Zigeunerin« tanzte, zeigte man sich irritiert. Aber die Frauen verziehen es ihm. So ist eben unser Willy. Um Mitternacht mußte er zu Bett. Wir feierten weiter. Er sagte: »Ihr habt's gut.« »Tja«, sagten wir, »Du willst ja Kanzler werden, das hast du nun davon.« Willy war gern im Salon, unter Kollegen. Er liebte die intime Atmosphäre des Vertrauens, wo er sich etwas gehenlassen konnte. Er war dann ein Connaisseur, Zigaretten rauchend, einen Aquavit in der Hand.

Die Nacht des Mauerbaus vom 13. August 1961

1961, 13. August. Niemand im Wahltroß scheint es erwartet zu haben. Ich war in der Nacht nach Ost-Berlin gefahren, zu meiner Familie. Ich wohnte dort und war Mitglied der SPD in Friedrichshain. Unsere Parteizentrale war in West-Berlin und Willy Brandt unser Vorsitzender. Am anderen Morgen der Schrecken: Ich saß in der Falle. Ich hätte noch schnell abhauen können, ohne Familie. Ich zögerte und blieb. Sah im Fernsehen, wie die von mir noch organisierte Wahlreise durch mein westdeutsches Heimatland verlief. Ich war tief erschüttert, so abgetrennt zu sein. Als man mir einen Westausweis zuspielte, zögerte ich immer noch. Dann wurden die Passierscheine eingeführt, und ich saß endgültig fest. Die Stasi begann, sich für mich zu interessieren. Zwölf Typen überwachten mich Tag und Nacht. Wahrscheinlich wollten sie mich erwischen bei der Flucht und dann erpressen. Nach zwei Monaten schob man mich ab.

Drüben im Westen empfingen mich tiefes Mißtrauen und Ablehnung. Ich erhielt eine seelische Stigmatisierung, von der ich mich nie erholen sollte. Nur Willy Brandt reagierte anders als die anderen. In der Kongreßhalle sprach ich ihn an. »Ich glaub' dir. Laß Zeit verrinnen. Du weißt doch, wie das ist im politischen Leben.« Ich empfand Willy Brandt in diesem Moment in seiner Souveränität und in seinem Vertrauensbeweis als überwältigend. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesprochen. Ich war ein unbedeutender Zeitgenosse. Ich denke an ihn in Liebe. Irgendwann sollten wir diese Persönlichkeit Brandt auch in seinen Widersprüchen darstellen. Dem Toten aber sollte man zurufen: Voila, was für ein Mann!