piwik no script img

Von Litauen in die Chicago Stockyards

Als Amerika noch das gelobte Land war. Autobiographien osteuropäischer AuswanderInnen  ■ Von Dithelm Knauff

„Dieser Junge muß nach Amerika!“ Jetzt hörte ich ganz schnell auf zu gähnen und sah den Schuhmacher von nun an unaufhörlich an. [...] Dann beugte er sich über die Zeitung, lange, und seine Lippen bewegten sich stumm. Schließlich blickte er ins Feuer, strich sich durch die Haare, seine Stimme zitterte und war belegt. „Wir wissen, es ist wahr: alle Menschen sind gleich und frei geboren. Das gibt ihnen Rechte, die niemand nehmen kann...“

Unter dem Namen Antanas Kaztauskis erschien in der Progewerkschaftszeitung Independent 1904 der Lebensbericht eines litauischen Einwanderers. „Es war der Schuhmacher, durch den ich nach Amerika kam“, gesteht er einleitend.

„Sein Sohn hatte dem Schuhmacher eine Zeitung aus Amerika geschickt und ihm die Passage aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ins Litauische übersetzt. Der Amerikanische Traum von Freiheit und dem Streben nach Glück hatte ihn ergriffen, und jetzt agitierte er auf seinen Wanderungen durch Litauen für menschliche Lebensverhältnisse, gegen den Zaren und für Amerika...

Meine Mutter erschrak heftig und legte ihre Hand auf meinen Kopf. „Nein, nein, er ist doch noch ein Junge“, sagte sie. „Bah!“ schrie der Schuhmacher, warf sein Haar zurück, und ich fühlte, wie er mich fast mit seinen Augen durchbohrte. „Er ist 18 und ein Mann. Ihr wißt, wo er in drei Jahren hingehen muß“. Wir wußten alle, daß er die fünf Jahre Dienst in der Armee meinte. „Wo ist euer ältester Sohn? Tot. Oh, ich weiß, wie es ist“. [...] Er zog eine alte amerikanische Zeitung aus der Tasche, gedruckt in der litauischen Sprache, und ich erinnere mich, daß er sie zerriß, so ärgerlich war er. „Die guten Nachrichten der ganzen Welt werden von uns ferngehalten. Wir können nur lesen, was russische Beamte in ihren Zeitungen drucken lassen. Lesen? Nein, ihr könnt eure eigene Sprache nicht lesen oder schreiben, weil es keine litauischen Schulen gibt, nur russische Schulen, deshalb könnt ihr nur Russisch lesen und schreiben. Könnt ihr das tatsächlich? Nein! Denn sogar für diese russischen Schulen müßt ihr bezahlen, um zu lernen, und ihr habt dafür kein Geld. Schämt ihr euch nicht, ihr alle? Hört mir zu.“ Jetzt sah er meine Mutter an, und sie erschrak, aber der Schuhmacher schrie noch lauter. „Warum könnt ihr keine litauischen Schulen haben? Weil ihr wie Hunde seid — ihr habt nichts zu sagen — ihr habt keine Stadt- oder Provinzversammlungen, keine Wahlen. Ihr seid Sklaven... Ihr müßt alle wie Sklaven schuften und doch bringt euer Korn und Weizen wenig Geld, weil sie euch kräftig betrügen. Oh die Wölfe — wie fett sie sind. Und deshalb darf euer Junge nicht lesen und schreiben lernen oder frei denken wie ein Mann.“ Kaztauskis floh aus seinem Heimatland, um der Rekrutierung durch die zaristische russische Armee zu entgehen. Heimlich kaufte er sich ein Ticket, bestach die russischen Grenzsoldaten und gelangte nach einer schwierigen, gefahrvollen Überfahrt nach Chicago. In Amerika wurde er dann aktiver Gewerkschafter. In seinem Bericht geht es ihm vor allem darum, wie ein Bauer aus dem rückständigen Litauen in der kapitalistischen Metropole zurechtkommt.

Seine Landsleute lachen über seine naiven Vorstellungen von Freiheit und Glück. Die wirkliche Quintessenz des amerikanischen Traums sei: Money. Diese desillusionierenden Erfahrungen setzen auch für Kaztauskis unmittelbar ein: Unterkunft, Jobsuche, Freiheit als das absolute Ausgeliefertsein an den meat trust.

Mary Antin, ein Jüdin aus dem zaristischen Rußland, berichtet in ihren Autobiographien, die 1899 und 1912 erschienen, über ihre Erfahrungen als Emigrantin. Für sie spielen die Erniedrigungen und die unmenschliche Behandlung der AuswanderInnen auf den verschiedenen Stationen der Reise eine wichtige Rolle. Für osteuropäische Auswanderer war Deutschland Transitland, die deutschen Häfen Hamburg und Bremen profitierten erheblich von diesem Geschäft, behandelt wurden die AuswanderInnen jedoch als Menschen zweiter Klasse. Entlang der Grenze im Osten gab es eine Reihe von Kontrollstationen: Bajohren, Tilsit, Insterburg, Eydtkuhnen, Prostken, Illowo, Ottlotschin, Posen, Ostrowo, Breslau, Myslowitz, Kandrzin, Ratibor, von Nord nach Süd. Mit deutscher Gründlichkeit wurden die Menschen hier gewaschen, desinfiziert, untersucht und anschließend nach Ruhleben, der zentralen Kontrollstation in der Nähe von Berlin, gebracht, wo sich die Prozedur wiederholte. Im Hafen dann zum dritten Mal.

„Auf einem einsamen weiten Feld, gegenüber dem einzigen Haus weit und breit, in einem riesigen Hof, kam unser Zug endlich zum Stehen, und ein Schaffner befahl den Passagieren, sich zu beeilen und auszusteigen. [...] Er drängte uns in den einen Riesenraum, aus dem das Haus bestand, und dann in den Hof. Hier erwartete uns eine beträchtliche Anzahl von weißgekleideten Männern und Frauen; letztere kümmerten sich um die Frauen und Mädchen unter den Passagieren, die Männer um die anderen. Diese Situation stürzte uns in große Verwirrung, Eltern verloren ihre Kinder, Babies weinten, Gepäck wurde in einer Ecke des Hofes zusammengeworfen ohne Rücksicht auf den Inhalt. Die weißgekleideten Deutschen brüllten Befehle, begleitet von einem dauernden „Schnell! Schnell!“ — die verunsicherten Passagiere gehorchten wie wehrlose Kinder, fragten höchstens gelegentlich, was man mit ihnen tun würde... Ein Mann kam, uns zu inspizieren, so als ob er unseren tatsächlichen Wert schätzen wollte; Leute, die uns fremd waren, kommandierten uns herum wie dummes Vieh, hilflos und ohne Widerstand; wir wurden in einem kleinen Raum zusammengepfercht, in dem ein großer Kessel auf einem kleinen Ofen dampfte; unsere Kleider wurden ausgezogen, unsere Körper mit einer glitschigen Substanz eingeschmiert, die alles erdenklich Teuflische hätte sein können; warmes Wasser ergoß sich über unsere Köpfe ohne jede Vorwarnung; wieder zusammengetrieben, saßen wir in Wolldecken eingehüllt in einem anderen kleinen Raum... Alles, was wir sehen können, ist eine Dampfwolke. Laut dröhnen die Kommandos der Frauen, uns anzuziehen — ,Schnell! Schnell! — oder ihr verpaßt den Zug!“ — Oh, also werden sie uns doch nicht umbringen! Sie machen uns nur fertig für die Weiterreise, säubern uns von jeglichem Verdacht einer gefährlichen ansteckenden Krankheit. Gott sei Dank! In diesem Fall war es Choleraverdacht, der als Begründung für die peinlichen Prozeduren herhalten mußte.

Aus Litauen stammt auch Abraham Cahan, er wurde 1860 in Wilna geboren und kam 1882 in die USA. Seine politische Betätigung gegen den Zarismus war für ihn ein wesentlicher Grund gewesen, sein Land zu verlassen. Seine Flucht über die Grenze ins österreichische Galizien war abenteuerlich, dort saß er mehrere Monate fest und konnte erst mit Unterstützung jüdischer Hilfsvereine nach Amerika gelangen. Dort war er als Funktionär in der Arbeiterbewegung tätig, war Mitbegründer der Social Democratic Party und der Zeitung Jewish Daily Forward in New York, die unter seiner Herausgeberschaft die einflußreichste jüdische Tageszeitung in den USA wurde. 1917 schrieb er seine Biographie. Sehr einfühlsam geht er unteranderem darauf ein, wie „Amerika“ ihn veränderte: „Amerika war im wörtlichen Sinne eine neue Welt, eine seltsame Welt, eine unangenehme Welt, aber auch eine herausfordernde Welt, die mich mit einem vollen, gesunden Duftreiz kräftigte wie der eines frisch gepflügten Feldes. Amerika fesselte mich, verwirrte mich.

Es schien mir, daß in Amerika an einem Tag mehr Leben zu spüren war als in Rußland in zehn. Die Katze, die ich am Pier in Philadelphia entdeckt hatte, war der lebende Beweis dafür, daß Amerika Teil derselben Welt war, zu der auch Wilna, Petersburg, Lemberg oder Berlin gehörten. Aber nach den ersten Monaten, als ich dabei war, Amerika besser kennenzulernen, gewann ich einen gegensätzlichen Eindruck. Es war eine neue, andere Welt. Es war eine angenehme Welt, die mich peinigte.

Überall um mich herum gab es erstaunlichen Wohlstand, Tatendrang und Unternehmensgeist. Ich hatte den Ausdruck ,Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ noch nicht gehört, aber das Lauern nach der großen Chance, konnte ich überall spüren.

Langsam bemerkte ich einen Wandel bei mir selbst. Jede Minute, so schien es, sog ich irgendeine neue Erfahrung auf. Ich untersuchte alles, ich hörte mir alles an, ich beobachtete alles. Ich fühlte mich abgestoßen und angezogen, wie besessen und krank vor Heimweh und total aufgeregt von dem, was die Zukunft bringen würde. [...] Ich erinnere mich an das Schild über der Bäckerei in Canal Street, nahe Mott Street, und an die Pferdebahn auf der Bowery. Dies waren die Örtlichkeiten, die ich kannte, und die Gedanken, die meine Tage in der Zeit anfüllten, als mein Herz voll von Hoffnung und Einsamkeit war.“

Literatur:

„From Lithuania to the Chicago Stockyards — An Autobiography: Antanas Kaztauskis“ in: David M. Katzmann/William M. Tuttle, Jr. (eds.): »Plain Folk. The Life Stories of Undistinguished Americans.« Urbana/Chicago: UIP 1983, pp. 97-115.

Mary Antin: »The Promised Land. The Autobiography of a Russian Immigrant« (1912), repr. Princeton, NJ, 1969.

Abraham Cahan: »The Education of Abraham Cahan«, Philadelphia 1969.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen