Ab nach Kassel

■ Matthias Altenburgs Roman „Die Liebe der Menschenfresser“

Lamentieren hilft ja nichts. Ich bin mir sicher: Es war schon immer so, daß es pro Saison nur wenige wirklich gute Bücher gab. Was soll also das halbjährliche Gejammere über die desolate deutsche Gegenwartsliteratur? Freuen wir uns lieber an den paar Perlen, die uns vergnügliche, unterhaltsame, anregende und/oder lehrreiche Lesestunden beschert haben; an Glücksfällen wie Matthias Altenburgs Erstling „Die Liebe der Menschenfresser“.

Die Geschichte beginnt in Breitenstein. In diesem nordhessischen Kaff diktiert die Ereignislosigkeit den Lebensrhythmus. „Alles war einerlei, jahraus, jahrein — jahrein, jahraus... Nicht einmal der Krieg hatte im Dorf für Aufregung gesorgt, weil er gar nicht bis hierher gekommen war.“ Wer in solcher Umgebung aufwächst, wird entweder, wie alle anderen, ein Angepaßter, oder er flüchtet in ein Extrem. Und weil nichts langweiliger ist als Schablonen, interessiert sich Altenburg auch nicht für die Normalen, sondern für die Ausgeflippten, die Spleenigen, die Dorfdeppen, die Durchgedrehten.

In „Die Liebe der Menschenfresser“ geht es derb zur Sache, im Breitenstein der fünfziger Jahre herrschen nämlich archaische Zustände. „Die Bauern hackten und machten und dachten an Zahlen. Hinter den Äckern begann Feindesland. Wenn die Bauern reden wollten, brüllten sie. Wenn sie streicheln wollten, schlugen sie. Manchmal fielen sie über ihre Frauen her, als wollten sie sich rächen. Die Frauen lachten über jeden, der es nicht so machte.“ Wir befinden uns im Deutschland der übriggebliebenen Nazis, der Spanner, Rassisten und Verlierer, und alle arbeiten sie wie verrückt am Wiederaufbau. Ausnahmen bestätigen — wie immer — die Regel.

In einer bravourös und souverän durchgehaltenen Jargonsprache erzählt der in Frankfurt lebende Autor vom Schicksal des invaliden Werkzeugmachers Franz Rothmann, der als Widerstandskämpfer und KZ-Überlebender nach Breitenstein zurückkommt, die fette schwarze Mama Bonzo als seine Ehefrau ins Dorf holt und sich mit ihr und dem von einem ehemaligen KZ-Schergen erpreßten Geld bis zu seinem Tod einen schönen Lenz macht.

Wir lernen Elfi kennen, die gleichzeitig mit Mama Bonzo unehelich schwanger wird und deshalb Hals über Kopf aus Breitenstein fliehen muß. Zusammen mit Mama Bonzo und deren Schwängerer, dem Dorfdeppen Lothar, landet sie in Stalingrad, einer armseligen Barackensiedlung am nördlichen Rand der kleinen, aufstrebenden Industriestadt Braunstal.

Dort findet Mama Bonzo ihr Auskommen im Chateau d'Amour der Gräfin Marika von Esterhazy, und Elfi wird Kellnerin in der Pension Buckelranch. Die beiden Kinder der Frauen, Negrita und Koller, bilden mit Kongo, Gülle und Neuhaus eine unzertrennliche Bande und kämpfen bis zum Erwachsenwerden gemeinsam gegen die Benachteiligungen, die der Alltag bereithält für Kinder, die „zwischen Pollacken und Zigeunern, Müttern ohne Männer, Männern ohne Arme und Kindern ohne Eltern, Fremdarbeitern und Kriegsheimkehrern“ auf der Schattenseite des Lebens aufwachsen. Mit Hilfe einer Unzahl von kleinen und kleinsten Schicksalen, die Altenburg oft nur andeutet oder skizziert, und die er um die Lebenslinien von Elfi, Mama Bonzo und Koller, den Protagonisten des Buches, gruppiert, zeichnet der Autor ein authentisches Bild, quasi ein Sittengemälde der Bundesrepublik von den Fünfzigern bis in die Siebziger.

Vor- und Rückblenden erklären Zusammenhänge und erzeugen Spannung; in prägnanten, präzisen Bildern bringt Altenburg Phantasien beim Leser in Gang, die sich vor dessen geistigem Auge zu ausschweifenden Filmszenarien entwickeln. Schon nach wenigen Seiten entwickelt die Geschichte eine Sogwirkung, und man kann gar nicht so schnell lesen, wie man erfahren möchte, was den Personen als nächstes zustößt. Gerade weil Altenburg nicht episch ausbreitet, sondern seine Handlung zügig vorantreibt, ist ihm mit seinem schmalen Buch ein vergleichbares Kunststück wie Edgar Reitz mit seiner Serie „Heimat“ gelungen.

So unvermittelt, wie der Roman anfängt, so zufällig hört er auf. Koller verschwindet — fast möchte man sagen: sang- und klanglos — von der Bildfläche wie weiland Fassbinders Maria Braun. Der Leser klappt nach fünf Stunden dankbar und emotional betroffen das Buch zu, um sich sodann einem Gefühl von Trauer und Verlust hinzugeben. Gerne hätte man den Lebensweg dieser (Außenseiter-)Bande noch viel länger weiterverfolgt. Wolfgang Rüger

Matthias Altenburg: „Die Liebe der Menschenfresser“. Piper-Verlag, 216 Seiten, 32 DM.