Der Bürger als Headbanger

Pop nach Hoyerswerda und Rostock. Drei inländische Momentaufnahmen  ■ Von Thomas Groß

Neue Zeiten verlangen neue Koalitionen, auch in der populären Musik. Seit kein Weg mehr an der Einsicht vorbeiführt, daß Frustcore-Spielarten von Rock'n'Roll unter den momentanen Bedingungen ganz passabel mit rechtem Gedankengut zusammengehen, hat auch die 30 Jahre alte Gleichung Rock'n'Roll = Körper = Befreiung = irgendwie links ihre Unschuld verloren. Die Biographien der Täter von Rostock lehren auf eine denkbar unangenehme Weise, wie ehemals subkulturell gebundene Ausdrucksformen, von Ska über Heavy Metal bis hin zu Punk, plötzlich zur Avantgarde eines neuen, diesmal rechten Mainstream werden können. Frei nach dem Motto shout, shout, let it all out ist heute jeder Bürger ein potentieller Headbanger, er traut sich nur noch nicht so recht. Die gute alte Dröhnung ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war — damit aber ein Grundkonsens der Popmusik (wie auch des Redens darüber) in Frage gestellt: War alles ein Irrtum? Sind die Kids doch nicht allright? After all these years?

Die Antwort der Hamburger Goldenen Zitronen: In jedem Fall brauchen sie Education. Ihre Drei- Stücke-Maxi „80.000.000 Hooligans“, eine Kooperation mit den Rappern von Easy Business und dem in Hamburg auf der Durchreise hängengebliebenen ehemaligen „Poor Righteous Teachers“- Produzenten Eric „IQ“ Gray, ist ein weiterer Versuch, auch hierzulande eine Musikform zu etablieren, die sowohl Dancefloor-orientiert ist als auch politically correct. Der Rückgriff auf HipHop war dabei im doppelten Sinne naheliegend: Zum einen sind die eher langsamen, elastisch insistierenden Grooves ein notwendiges Gegengewicht zur Einkehr von Marschstiefelrhythmen in Punk und Hardrock; zum anderen bietet HipHop die größte gemeinsame Schnittmenge zwischen dem Fun-Punk- Hafenstraßen-Kontext der Zitronen und neueren, die veränderte Situation reflektierenden Urban-Ghetto-Ausdrucksweisen. Ein historischer Kompromiß also, zugleich ein Beispiel für das Überwinden von Lagermentalität: Hedonismus ja, aber in einem durch die überlegte Verwendung von Text und musikalischen Mitteln neu definierten Verhältnis zur Tradition der Aufklärung. Und auf deutsch, versteht sich: „Es kam ganz plötzlich über Nacht, was daraus wurde hätte keiner gedacht... der Bürger, dem mal wieder nach Volksfest war, wurde mit einfachen Mitteln Fernsehstar, seine Welt, bis dato nichtig und grau, war der Nabel der Welt, jeder Tagesschau... der Volksport griff um sich erstaunlich schnell, Pogrome sind Sport, hieß es traditionell.“

Erstaunlich an dieser gerappten Benennung inländischer Verhältnisse ist nicht nur ihre geradezu prophetische Hellsichtigkeit (die Maxi, die auf der diesjährigen PopKomm vorgestellt wurde, entstand Monate vor Rostock, allerdings nach Hoyerswerda), auch die Musik läßt, sicher nicht zuletzt durch die Mitwirkung von IQ, provinzielle Standards hinter sich — bei deutschem HipHop noch lange keine Selbstverständlichkeit. Erstaunlich drittens, daß einige alte Fehler des Agitprop vermieden wurden: Diese Platte weiß sich nicht im Einklang mit universalen Gesetzen der Weltgeschichte, sie ahnt nicht kommende Siege voraus, sondern diagnostiziert erst einmal die momentane Niederlage: „und ich und ich — und mir war, als wären die von meiner Sorte auf einmal rar“. Das klingt eher melancholisch und hat mit den Fortschrittsteleologien traditioneller Linkslyrik wenig gemeinsam. Ganz wollte man freilich nicht davon Abstand nehmen, auch komplexe internationale Zusammenhänge in populären, leicht verständlichen Worten zu vermitteln. Die Welt der Industriestaaten, rappen Easy Business zum Zitronen- Song, sei nur „ein Bruchteil des Ganzen“ und deshalb so dick, „weil sie gestern wie heute den Rest der Welt fickt“.

Soviel Belehrung mag der durchschnittliche gutartige Pop- Fan gerade noch vertragen. Als habe man dieser Art von Kapitalismuskritik in letzter Instanz dann aber doch nicht so ganz vertraut, wurde der Vinyl-Ausgabe der Single ein Faltblatt beigelegt, das noch einmal theoretisch nachfaßt: „Sorgen die Konkurrenzgesetze nicht dafür, daß die ökonomisch und militärisch führenden Nationen ihren Vorsprung ausbauen können?“, fragt der Hamburger Musikjournalist Günther Jacob. „Oder pointierter: Ist das unkritische Einverstandensein mit dem olympiareifen Lebensrhythmus hier, mit den allgegenwärtigen und allgemeingültigen Kriterien von Funktionalität und Effektivität nicht die Fortsetzung eines alten Krieges mit modernen Mitteln?“ Oliver Tolmein, Ex-taz-Redakteur und schon seit längerem Mitglied der Konkret-Posse, setzt noch eins drauf und liefert eine Chronik der laufenden Ereignisse seit Hoyerswerda nebst Auszügen aus dem geplanten Asylverfahrensgesetz.

Das ist natürlich alles ganz furchtbar correct, arbeitet aber auch mit den leicht penetranten Mitteln kombinierter Lehrveranstaltungen der Sechziger und frühen Siebziger: Totalaufklärung im Reader-Format, alles kompakt und teamworkmäßig erarbeitet. Pädagogische Eitelkeit spielt dabei auch eine gewisse Rolle. Wie eine momentan in der Musikillustrierten SPEX (Nr.9 und 10/91) geführte Diskussion in schöner Anschaulichkeit zeigt, ist der Versuch, Politik und Pop neu zu vermitteln zugleich auch ein Kampf um die Wortführerschaft im Zugriff von Theorien auf die momentane Entwicklung. Wo die einen tonnenweise marxistisches Vokabular auffahren, um endlich wieder klar sehen zu können, fürchten die anderen um die spielerischen Momente von Theoriebildung, das bessere Erbe der achtziger Jahre: Ironie, Ambiguität, Pluralität. Wo die einen ihre Zeit endlich gekommen sehen, wehren sich die anderen gegen ihr drohendes Historischwerden. Hoffen wir, daß das bessere Argument auf die Dauer siegen wird; offener und offensiver agieren im Moment die Aufklärungsmacher um Jacob.

Gerade deswegen müssen sie sich allerdings auch die Frage gefallen lassen, wie es zu dieser phantastisch beknackten, gleichsam prämodern verfaßten Abbildung auf dem Titel ihrer Fibel kommen konnte: Zwei Figuren, die eine im Knebelbartlook des frühen Franz- Josef Degenhardt (inklusive Ernst-Thälmann-Mütze und Partei-Emblem am Ärmel), die andere in einer Art Radlerhose und mit expressionistisch wallendem Haar, kämpfen Seit' an Seit' gegen ein glutäugiges reptilienartiges Wesen mit Hakenkreuzgloriole, das offenbar allen Ernstes — allegorisch gewissermaßen — das international vernetzte deutsche Kapital darstellen soll. Die Message ist klar: Knuff! Man soll dem Ding einfach eins auf den Dez hauen. Bloß diese Zacken am Ärmel verwirren. Ist das Kapital etwa ein Alien? Am Ende selber ein Ausländer? Tolmein, klären Sie auf!

Ob es nötig war, in ähnlich drastischer Manier die Initiatoren des Samplers „Kein Haß im Wilden Süden“ in den Kontext präfaschistischer Machenschaften zu rücken, gehört auch zu den Fragen, über die die Geschichte richten möge. Richtig ist immerhin, daß das auf Initiative eines Punks und eines Promotion-Chefs zustandegekommene Werk entschieden im Bereich des Gutgemeinten verharrt. Zur Vorgeschichte: Lars Besa, Sänger der Punk-Band Normahl und Hans Derer von der Musikfirma MMC hatten, einen Tag nach Hoyerswerda und „total geschockt von der Scheiße, die dort ablief“, auf einem im Raum Stuttgart abgehaltenen Freizeitkick beschlossen, ihren guten Willen zusammenzutun. Besa schrieb auf der Stelle einen Song namens „Niemals vergessen“. Prinz übernahm die Schirmherrschaft. Flugs kamen noch die Stuttgarter Kickers hinzu, ein Großteil der ortsansässigen Musikerszene sowie Rezzo Schlauch. Sie alle waren „spontan bereit“, ohne Gage und weiteres Nachdenken mitzusingen. Der Erlös geht an die „Gesellschaft für soziale Jugendarbeit“ in den Stuttgarter Stadtteilen Freiberg, Mönchfeld und Rot. Tätige Nachbarschaftshilfe.

Und die Musik? Vielleicht hätte man sich doch etwas mehr Zeit lassen sollen damit. Der Sampler bietet einen wahrscheinlich repräsentativen Querschnitt einheimischen Popschaffens, der allerdings — von vagen Rekursen auf Essentials wie „Love“, „Soul“ und „Frieden“ einmal abgesehen — weitestgehend ohne inhaltlichen Bezug zum vorgegebenen Thema bleibt. Bloß der Titelsong, eine Ballade voller Inbrunst, Fußballerchöre und Queen-Pomp, geht in jeder Hinsicht aufs Ganze: „Niemals vergessen, niemals wieder Straßenkrieg, wir wollen keinen neuen Führer, kein Heil und keinen Sieg!!!“ Antifaschismus auf Band Aid-Level, mit verteilten Rollen und gelegentlich recht knödelnd vorgetragen: Man soll auch schön hören, daß es allen Ernst war. „Ehrlich, mir lief es eiskalt den Rücken runter, als die ganzen Leute da im Studio den Refrain sangen“, beichtet Besa im Begleitheft. Ein Hartherz, am Ende ein Marxist oder Schelm, wem es nicht ähnlich ginge.

Vielleicht ist ein Sampler wie „Kein Haß im Wilden Süden“ aber auch mehr als leicht schauerliches Goodwill: ein Indiz für die bevorstehende Rückkehr der Provinz (und nicht nur der geographischen) ins Zentrum der Reden und Praktiken um Pop. Gut möglich, daß unter dem Druck, zu formulierbaren Aussagen zu kommen, in den zukünftigen Debatten weder der verspiele Pop-Dandyismus federführend bleibt noch der Marxismus alter Schule sich durchsetzt; denkbar, daß statt dessen der gesamte intellektuelle Überbau wegbricht zugunsten eines biederen, ein wenig dumpfen Antifa-Populismus, der in den achtziger Jahren an den Rändern überwintert hat — eine Mobilisierung des Restkonsens gegen Rechts. Für letzteres spricht auch die vielbeachtete Rückkehr Udo Lindenbergs.

„Und wir hau'n mit den Tatzen den Skins auf die Glatzen, das einzige, was sie versteh'n, also Faschos verpißt euch, keiner vermißt euch, wir wollen euch nur noch von hinten seh'n...“ Das ist natürlich wieder denkbar schlicht, wie alle Songs auf dieser aktuellen LP mit dem Titel „Panik-Panther“ — ganz gleich ob Lindenberg ein Asylbewerberschicksal besingt („Er wollte nach Deutschland“), sich gegen die Existenz von Staaten überhaupt ausspricht oder in „Sogar 'n Kind“ trotz bedrohlicher Zeiten ein Apfelbäumchen pflanzen möchte. Hauptsache „Panik“. Es muß allerdings befürchtet werden, daß so die Sprache sich anhört, die heute an den bundesdeutschen Schulen verstanden wird. Die Zeiten des preaching to the converted sind vorbei. Ein Mann wie Lindenberg wird deshalb wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gehievt, weil man ihm zutraut, im labilen Schwebezustand der Gemüter entscheidende Polarisierungen zu erwirken. Schließlich war er es, der als einer der ersten Westkünstler noch zu DDR-Zeiten FDJler an sozialdemokratische Standards herangeführt hat. Nicht zufällig auch hat er es jetzt geschafft, sein „Panik-Panther“-Projekt als eine der ersten populären Ost-West- Kooperationen der deutschen Pop-Historie zu vermarkten: mit von der Partie sind Nina Hagen und die Dresdner „Prinzen“ — die eine mit einer Art Fortsetzung des „Mädchen aus Ostberlin“-Themas, die anderen als brave Chorknaben einer besseren Einheit.

Wahrscheinlich haben wir einen neuen König von Deutschland vor uns. Der Mann ist tatsächlich ein populistischer Gegen-Kohl, und wenn er noch eine Weile so weitermacht, wird Engholm vielleicht sogar Kanzler. Nicht nur bis dahin gilt: Unsere Leichen leben noch. In jeder Hinsicht.

Die Goldenen Zitronen/Easy Business/IQ: „80.000.000 Hooligans“ (Sub Up Records, München. Dort ist vor einigen Wochen auch eine Solo-LP von IQ erschienen).

Diverse: „Kein Hass im wilden Süden“ (Intercord).

Udo Lindenberg: „Panik-Panther“ (Polydor).