Die Linke braucht Aufklärung über sich selbst

Das neue Buch des hessischen Umweltministers Joschka Fischer geht ans „Eingemachte“. Seine Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Utopieversessenheit linker Theorie  ■ Von Christian Semler

Schön, daß es das noch gibt: einen Politiker, der nicht lesen läßt, sondern liest. In dessen Bibliothek noch die hoffnungsblauen Bände der Marx-Engels-Werke in Griffhöhe stehen — allerdings untermischt mit den eisiggrau eingebundenen Schriften Karl Löwiths. Wo wir manchem Schund begegnen, wie dem Bestseller Francis Fukuyamas vom vorgeblichen Ende der Geschichte, aber auch den Weggenossen linker Selbstkritik und linker Scham: Hannah Arendt, Elias Canetti, Manes Sperber und — alle überragend — Günther Anders' Traktat über die Antiquiertheit des Menschen. Dazu noch ein Stapel Zeitungsausschnitte aus FAZ und taz. Voila das Lese- und Verarbeitungskabinett Joschka Fischers.

Der hessische Umweltminister, von dem wir wissen, daß er ein Meister pragmatischer Politik, des Taktierens und Finessierens, manchmal auch der Demagogie ist, setzt uns ein weiteres Mal in Erstaunen. Er präsentiert uns eine Arbeit, in der es ums Grundsätzliche, ums „Eingemachte“ geht: um „die Linke nach dem Sozialismus“.

„Das Bedürfnis nach Gott“, schrieb der große Alte aus Königsberg einmal, „ist kein Beweis seiner Existenz.“ Das Bedürfnis linker Intellektueller nach Utopie, möchte uns Joschka Fischer aus Frankfurt sagen, ist kein Beweis ihrer Notwendigkeit. Im Zentrum seines Essays steht eine vehemente Polemik gegen die Utopieversessenheit linker Theorie von Marx bis in unsere Tage. Zugegeben, die Beweisführung ist so neu nicht, aber sie trifft ein weiteres Mal dahin, wo es schmerzt. Denn nicht nur die totalitäre, auch die demokratische Variante des Sozialismus war nach Fischer dem Utopismus verfallen, ging sie doch ebenfalls von der Machbarkeit eines die ganze Gesellschaft transformierenden Projekts aus. Bei seiner Demontage des Verlangens nach dem ganz Anderen, dem Jenseits des Kapitalismus, konzentriert sich Fischer auf die Rettungsversuche, die im Zusammenbruch der realen Sozialismen keinen Beweis, nicht einmal ein Indiz gegen das sozialistische Projekt und seine intellektuellen Urheber sehen wollen. Die keineswegs leicht zu beantwortende Frage, ob, und wenn ja, in welchem Ausmaß Marx Utopist gewesen ist, bereitet Fischer kein Kopfzerbrechen. Sein sicheres Urteil, „ja, er war's“, erkauft er freilich mit einer fragwürdigen Methode. Er nimmt das Werk von Marx als einheitlichen, fix und fertiges Korpus. Die gänzlich spekulativen, noch ganz dem feuerbachschen Denken verhafteten Äußerungen aus den frühen Schriften zur historischen Mission der Arbeiterklasse können dann für den ganzen Marx genommen werden. Ähnliches gilt für den Begriff der „Partei“, der nun mal bei Marx eine gänzlich andere Bedeutung hatte als für die Bolschewiki, für die These von der „Diktatur des Proletariats“ etc. Freilich, korrigiert man all diese Gewaltsamkeiten, bleibt doch ein unbestreitbares Faktum übrig: Marx interessierte sich, wo er über den Weg zum Sozialismus nachdachte, überhaupt nicht für Politik und politische Institutionen — einschließlich derer, die Grundrechte schützen sollten. Er war anti-etatistischer Utopist. Sein Erbe erleichterte es den Hyperetatisten in der Sowjetunion, die mit Rechtsstaat und Gewaltenteilung zusammenhängenden Fragen schlicht zu negieren. Der systematische Terror des stalinschen Parteistaates wurde auf diese Weise zum Ausdruck proletarischer Selbsttätigkeit, zur Klassenkampfbewegung ideologisiert.

Den sang- und klanglosen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums diskutiert Fischer im Zusammenhang der These von der „Implosion“. Der Prozeß seit 1985 gehorchte seiner Meinung nach einer rationalen, revolutionären Logik. Ein nicht reformierbares, der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte im Wege stehendes Zwangssystem wurde hinweggefegt. Aber an Stelle des verfaulten Alten erscheint keine neue, dynamische Kraft, sondern — das Vakuum. Das Gebäude stürzt in sich zusammen, implodiert. Auf der geistig-moralischen Wüste, die der Sozialismus hinterläßt, gedeihen allerhand Giftpflanzen. Deren gefährlichste ist der Nationalismus. Erfreulicherweise erspart uns Fischer einen weiteren Erklärungsversuch über den Zusammenhang individuellen und kollektiven Identitätsverlusts. Statt dessen bringt er die „Implosion“ auf interessante Weise mit der atomaren Blockkonfrontation zusammen. Die Sowjetunion konzentrierte alle Kräfte auf ein Wettrüsten, das doch nie zu einem Krieg mit der anderen Supermacht führen durfte. Dieser erzwungene Friede bestimmte letztlich auch die Formen, in denen sich der Abbau kommunistischer Herrschaft vollzog. Die alles entscheidende Frage lautet jetzt, nach dem Ende des erzwungenen Friedens, ob die Staatenwelt — erstmals in der Geschichte — sich freiwillig auf ein System internationaler Zusammenarbeit verständigen kann, oder ob der Nationalismus das schon entstehende Gewebe wieder auftrennen wird. Hier sieht Joschka Fischer die große, zivilisierende Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft. Er verteidigt sie gegenüber linker Kritik, fordert allerdings gleichzeitig ihre Demokratisierung. Freilich ohne auch nur skizzenhaft anzudeuten, wie die europäischen Gesellschaften die Sache selbst in die Hand nehmen sollen.

Endlich, nachdem wir wieder und wieder erfahren haben, warum die sozialistische und kommunistische Linke scheitern mußte, kommt Joschka Fischer im fünften und letzten Kapitel seines Essays darauf zu sprechen, ob es die Linke überhaupt noch gibt und, falls ja, ob es sie fürder geben sollte. Als sozialistische ist sie nach Fischer passe. Zur Marktwirtschaft auf der Basis des Privateigentums gibt es keine Alternative. Aber als Kind der Aufklärung, als Theorie und Praxis der Modernisierung existiert sie ebenso weiter wie ihr ewiger Widerpart und Zwillingsbruder, der konservative Traditionalismus. Aber die an ihre aufklärerischen Ursprünge zurückgekehrte Linke bedarf selbst der Aufklärung. Es gilt, nach dem Vorbild von Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ , die irrationale, die Nachtseite der Moderne aufzuspüren, das, was die Weltbeherrschung den Menschen wie der Natur angetan hat. Eine geläuterte Linke wäre in der Lage, Pfadfinderarbeit zu leisten, mitzusuchen nach einem Ausweg aus der brandgefährlichen Sackgasse, in die die realisierte Utopie des Konsumkapitalismus die westlichen Gesellschaften geführt hat. Es wäre dies nach Joschka Fischer der Weg, den die Vernunft der Selbsterhaltung weisen könnte. Allerdings — niemals mehr ginge es um den großen Wurf, nur um eine Akzentsetzung im postmodernen Gleichgewichtssystem. Vielleicht ist dies ja der Lohn linker Hybris, aber zwei Fragenzeichen seien doch angebracht, die aus den zwei großen Auslassungen in Fischers Essay resultieren:

Fischer spricht nie, mit keinem Wort, von den emotionalen Antrieben, die einen Menschen dazu bringen, sich mit Ausbeutung und Unterdrückung auf der Welt nicht abzufinden. Und er schweigt über den dritten Stern am Aufklärungshimmel, über die Brüderlichkeit, die Solidarität. Solange diese Emotionen weiterwirken, „steht es fest, daß wir noch leben und deutlich unterscheiden können, was unser ist und was nicht“ (Manes Sperber).

Joschka Fischer, Die Linke nach dem Sozialismus, Hoffmann und Campe 1992, 256 Seiten, 35.-DM