Utopienverlust und Kulturenvernichtung

■ Soziokultureller Kongreß „Utopien leben“: Ein Afrikaner las uns die Leviten

Adlershof. Eine internationale Tagung der Alternativbewegung im Festsaal des Stasi-Wachregiments Felix Dzierzynski? Der Gedanke hätte die 250 TeilnehmerInnen aus diversen soziokulturellen Zentren Ost- und Westeuropas vor noch nicht langer Zeit wohl ganz schön utopisch angemutet. Aber vielleicht war das schon das utopischste Element an dem Kongreß „Utopien leben“, der gestern in dem ehemaligen Stasi-Bau und heutigen Bürgerzentrum „Come In“ in Adlershof zu Ende ging. Viele neue Kontakte waren entstanden, aber auch viele Unzufriedenheiten über die 356ste verpaßte Chance einer Verständigung zwischen Ost und West. Die im westdeutschen Essen sitzende „Bundesvereinigung soziokultureller Zentren“ und der Ostberliner Verein „Förderband“ hatten das dreitägige Programm zwar gemeinsam vorbereitet, aber zu wenig darauf geachtet, wie die übliche Westdominanz zu vermeiden sei.

„Utopienverlust“ nannte Siegfried Leverenz vom „Förderband“ Brandenburg das Ergebnis. Die Westler hätten nicht verstanden, was es für eine rumänische Teilnehmerin bedeute, drei Monatsgehälter für ein Ticket nach Berlin auszugeben. Ein anderes Beispiel erklang schon bei der Eingangspressekonferenz: Die westliche Alternativbewegung, so behauptete Andreas Bomheuer von der „Bundesvereinigung“, habe einen sehr viel umfassenderen Kulturbegriff als die etwas zurückgebliebene Szene im Osten. Was man daran sieht, so könnte man sarkastisch hinzufügen, daß das Westberliner „Netzwerk“ bis heute so gut wie kein Kulturprojekt fördert.

In Japan aber, das war am letzten Kongreßtag zu lernen, sieht wieder alles anders aus. „Wir Japaner haben viel von Europa und insbesondere von Deutschland gelernt“, so Kazuaki Tani von der Universität Tokio, „von Goethe, Kant, Marx, Heidegger und Habermas, und jetzt von seinen soziokulturellen Zentren.“ Die Bewegung der Komjinkan, der Bürgerhäuser, umfasse inzwischen 17.000 solcher Begegnungszentren, trug der freundliche Gelehrte mit dem grüngepunkteten Schlips vor.

Es wäre „zynisch, von einer soziokulturellen Infrastruktur in Afrika zu sprechen“, setzte der aus Kamerun stammende Sozialwissenschaftler und Jurist Benjamin Leunmi den wohl klügsten Kontrapunkt des ganzen Kongresses. Seit 500 Jahren, seit der Vatikan im Jahre 1493 mit der Missionierung Afrikas begann, habe der europäische Kolonialismus und Neokolonialismus alles versucht, um die afrikanischen Kulturen zu vernichten. Für ihn sei der auch in Japan so beliebte Kant deshalb „kein Aufklärer“, sondern ein „Rassist“. Er und andere hätten unglaublich dummes Zeug über Afrika geschrieben. Er zitierte Victor Hugo aus dem Jahre 1879: Der Kontinent sei nichts als ein „lebloser Haufen“, den Gott Europa geschenkt habe. Die Grün-Alternativen bekamen ebenfalls ihren Platz in Leunmis leidenschaftlicher Anklage. Auch in der Solidaritätsbewegung gäbe es „linken Rassismus und Paternalismus“, auch dort meinten immer noch einige, Afrika brauche „eben doch unser Know-how“. Wie um diese These zu beweisen, fragte jemand nach, wie „demokratiefähig“ „die Afrikaner“ denn seien. Europa habe diesen Begriff nicht gepachtet, entgegnete der schwarze Doktor, im Gegenteil habe schon Perikles erwähnt, daß der Begriff aus Ägypten, sprich: Afrika geholt und latinisiert worden sei. Afrikas Herrschaftsstrukturen von heute seien das Produkt europäischer Kolonisatoren. Ihre Nachkommen wollten nicht wahrhaben, daß die jetzige Demokratisierung auch „eine Absage an ihre Entwicklungspolitik ist“. Ute Scheub