Hau den Kohlkopf

Premiere an der Volksbühne Berlin: Intendant Castorf hat Shakespeares „King Lear“ inszeniert  ■ Von Niklaus Hablützel

Viermal pißt sie in den Blechkübel, die Königstochter, und viermal rauscht es gewaltig in den Lautsprechern, damit niemand die Botschaft überhöre. Sie betrifft das Publikum, das hier von vorneherein unter dem Generalverdacht zu stehen scheint, es wolle Kunst womöglich bloß konsumieren, und auch das nur, um sich selber zu bestätigen. Nichts dergleichen ist hier erlaubt, Kritiker sind schon vorab blamiert, wenn Frank Castorf inszeniert, dann hat der Kunstgenuß, der bekanntlich verlogene, zu unterbleiben.

Er stellt sich denn auch tatsächlich nicht ein. Mäßige Schauspieler spielen ohne Pause ein mäßiges, etwas wirres Stück, in dem sich mehrere Personen stark auf die Nerven gehen. Was ja auch kein Wunder ist bei den Zuständen, die in diesem Staat herrschen, nicht wahr? Einverständnis kann auch so erzeugt werden. Wer Castorfs Theater aufsucht, hat ja eigentlich nichts anderes erwartet als eine mehr oder weniger gründliche Provokation, und so sind denn auch alle sehr zufrieden. Bereitwilliger Applaus am Ende, schulterklopfendes Lachen auf offener Szene, er ist schon ein Tausendsassa, unser Castorf. Cordelia pißt noch mal in ihren Kübel, Vater, der Grapschegreis, hat sie verstoßen, und — pervers, pervers— schlürft danach der König von Frankreich den Eimer aus: Das ist die Mitgift, auf die so einer gerade scharf ist, und schon wieder ist eine Grenze des guten Geschmacks auf Anhieb überwunden. Noch ein paar Lacher im Parkett zeigen, daß wir das alles gut verstanden haben, wir, die wir im Saal sitzen und Frank Castorfs „Lear“ erwarten, den garantiert demontierten Klassiker von Shakespeare.

So ist denn Verlaß auch auf den Intendanten Castorf, der mit dieser Regie die erste Saison seines eigenen Theaters, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, eröffnet hat. Der Star der vergangenen Saison bleibt seinem Ruf treu. Wer Shakespeares Drama noch immer nicht kennt, möge sich das Textbuch besorgen (es wird im Foyer verkauft, Reclams gelbe Einzelausgabe), denn die Zertrümmerung der Klassik setzt ihre Kenntnis voraus. Es ist dunkel, wenn das Spiel beginnt, eine schiefe Ebene zeichnet sich schemenhaft im Bühnenportal ab, dann im Dämmer der Scheinwerfer auch eine Schöne im Minirock, die auf dem Akkordeon eine traurige Weise anstimmt.

Nein, im Textbuch steht diese Rolle nicht, wir identifizieren aber ohne Mühe die drei Frauen, die danach einer Leiter entsteigen, den Putzeimer in der Hand. Sie beginnen die Spielfläche zu scheuern: Gelächter im Saal. Goneril, Reagan und eben Cordelia sind das, die Töchter des Königs. Um „Erbteilung“ gehe es in diesem Stück, ließ Castorf schon vor der Premiere verlauten, um mit bedeutungsvoll hochgezogenen Augenbrauen hinzuweisen auf das Problem der Aktualität des Stoffes. Allzu genau darf da nicht nachgefragt werden, es paßt ja alles schon ungefähr zusammen: das Erbe der DDR, das nun im ungeteilten Deutschland geteilt werden muß, das Königreich, das King Lear an seine Töchter vererben will, die er alle gleichermaßen liebt, dann das Böse, das er damit heraufbeschwört, und die Gewalt der neuen Deutschen. „Stoppt die Pogrome“ steht auf jeder zweiten Seite des Programmheftes.

Graf Kent macht sich Sorgen um den Plan seines Königs, so lesen wir im Textbuch. Doch Graf Kent hat sich versiebenfacht auf der Bühne, was seine Rolle nicht eben durchsichtiger macht. Also vervielfacht liest er die Zeitung, rüstet sich später mit Brettern zur Schlacht auf der schiefen Tiefebene. Ein Ossi in Mielkes Hütchen irrt herum, aber auch ein grüner Kohlkopf muß rollen, er zerspritzt in alle Himmelsrichtungen unter dem Hammer, den ein junger Mann in Ketten schwingt. Ob auch dieser Teil der Aufführung im Textbuch steht, ist dann schon längst zu einer sehr unwichtigen Frage geworden, die slowenische Rockband „Laibach“ dröhnt ihren alten Song vom „Leitbild“, und die Tragödie nimmt ihren höchst eigenen Verlauf. Was da auf der Bühne noch geschieht, ist weiter nicht von Belang, es wird gefurzt, gerammelt, und alle Pein endet nach glücklicherweise kurzer Zeit mit einem politischen Gedicht auf Deutschland im Zeitalter der Klimakatastrophe: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?“

So unsäglich der Kalauer, so tragisch sein Motiv. Denn nur vordergründig hat Frank Castorf versucht, den „King Lear“ zu inszenieren. Der Stoff, wie auch der Text, hat ihn wenig interessiert, beide waren nur Anlaß, eine autobiographische These zu beweisen. Es geht um Castorfs Theater der Opposition, worin sich der Regisseur selber zum Helden gemacht hat. Mit dem verbissensten Ernst spielt er noch immer gegen mutmaßliche Aufführungsverbote an, sein Theater will unentwegt Radikalität demonstrieren, denn nur so scheint es im sonst so jämmerlichen — und schändlich betrogenen— Osten der Hauptstadt überleben zu können.

Nicht über Castorfs Interpretation des Shakespeareschen Textes ist daher zu reden, wohl aber über die Inszenierung dieser Legende. Bekanntlich begann sie in Anklam, der äußersten Provinz, wohin der junge Theatermann vor dem Zugriff der Partei emigriert war, führte über Skandale im Osten zu Triumphen im Westen. Was eben noch verboten war, sogar gefährlich, weil es den Zorn allerdümmster Bonzen des Systems erregte, das wurde plötzlich gefeiert, galt sogar als Zukunftshoffnung des deutschen Regietheaters.

Ohne Zweifel besitzt Castorf eine enorme szenische Phantasie, immer mal wieder blitzt etwas davon auf in seinem „King Lear“, und sie führt ihn dann weg von der bloßen Provokation hin zu einer unliterarischen, tänzerischen Vision des Bühnenspiels. Theaterpersonen verlassen in solchen Momenten ihre Rollen und gruppieren sich zu choreographischen Ensembles, Sätze verdichten sich zum rhythmischen Wortklang. Die Arbeit am Theater könnte beginnen, aber Castorf, der mit gewissem Stolz die Hauptrolle mit einem altgedienten Mitglied des Volksbühnenensembles besetzt hat, blickt lieber zurück auf die schönen Zeiten der Opposition. Er will Bühnenrevolten junger Männer anzetteln. Die aber führen heute zu weiter nichts als zu Subventionen aus dem geschrumpften Kulturhaushalt der Stadt. Politisch will dieses Theater sein und auch links, tatsächlich ist es bloß erlaubt, auch der sogenannte „Rote Salon“, den Castorf für allerlei Diskussionen und Kleinkunstabende eingerichtet hat, dürfte niemanden stören.

So ist die Klassikerzertrümmerung plötzlich ihres eigentlichen Gegenstandes beraubt. Sie wirkt nun seltsam tobsüchtig, die Bühne ist ein Laufkäfig geworden, in dem ungezogene Jungens mit Bauklötzchen schmeißen, statt richtige Spielzeughäuser zu bauen. Ziemlich verwirrt sieht dann und wann der alte Wilfried Ortmann dem Treiben zu, sitzt als King Lear verkleidet im Hintergrund und runzelt die Stirn, ein knorriger Proletarier alter Schule scheint er dann zu sein. Aber was soll er sagen? Im Textbuch stände so manches, was Castorf gestrichen hat. Dort stände auch, daß die bösen Töchter ihrem Vater die Augen ausstechen, doch hier blenden sie einen anderen. Castorf richtet einen Scheinwerfer ins Publilkum, wir sind blind, Graf von Gloster, oder auch einer der Kents, wer weiß? Sind ja so viele und sind doch nur eines: ein Theater in der Gummizelle.

Shakespeare: „King Lear“, Regie: Frank Castorf, Bühne: Hartmut Meyer, mit Wilfried Ortmann, Joachim Tomaschewski, Annett Kruschke u.a.; wieder am 28./31.10., 3./7.11. Volksbühne.