„Die Kinder jagen uns Todesangst ein“

Armut und Verelendung in US-amerikanischen Slums lassen Kriminalitätsrate in die Höhe schnellen/ Jugendgerichte verurteilen am Fließband wegen Drogenhandel, Mord und Totschlag  ■ Aus Chicago Andrea Böhm

Wenn Richter Arthur Rosenblum vom Jugendgericht Cook County in Chicago morgens den ersten Angeklagten vorführen läßt, dann hat er nur eines im Sinn: diesen Tag ohne gravierendere Verstöße gegen die Strafprozeßordnung zu überstehen. Daß Richter, Staatsanwälte und Verteidiger Weiße sind — und die Angeklagten Schwarze, das gilt hier als ebenso selbstverständlich wie das Gesetz der Schwerkraft.

Es ist Donnerstag morgen, kurz vor neun Uhr. Rosenblums „Wartesaal“ hat sich gefüllt. Etwa zwanzig schwarze Jugendliche sitzen in einem Vorraum auf Holzbänken, starren an die Wand oder auf ihre Schuhe. Die jüngsten sind zwischen neun und zehn, die ältesten siebzehn Jahre alt. Drei junge Staatsanwälte schleppen im Gänsemarsch ihr heutiges Pensum in den Saal: drei Pappkisten voller Akten. Ein paar Minuten später folgen drei junge Pflichtverteidiger — ebenfalls mit Kartons beladen. Im Vorbeigehen mustert einer von ihnen kurz die schweigsame Versammlung — wie ein Arzt, der frühmorgens mit einem lautlosen Seufzer das überfüllte Wartezimmer seiner Praxis durchquert.

9.20 Uhr: Armando, 14 Jahre alt, wird aufgerufen und betritt in Begleitung seiner Mutter den Saal. Er soll an einer Schießerei beteiligt gewesen sein, die Anklage lautet auf Körperverletzung mit einer Schußwaffe. Armandos Gesicht verrät weder Angst noch Nervosität, eher Unwillen über eine lästige Prozedur. Doch auf halbem Weg stoppt er plötzlich neben dem Tisch der Verteidigung, als ob er dort in Deckung gehen wollte. Ein Justizbeamter schlendert auf den Jungen zu und schleift ihn am Ärmel vor den Richtertisch. Eigentlich weiß Armando schon, wo er stehen muß — er ist heute zum dritten Mal hier. Seit der Eröffnung des Verfahrens im April wurde bereits zweimal vertagt. Auch heute, am dritten Prozeßtag wird es keine Verhandlung geben. Der Zeuge der Anklage ist nicht erschienen. Armando schlurft nach drei Minuten davon. „Wenn Du zum nächsten Termin nicht erscheinst, lass' ich Dich festnehmen“, ruft Rosenblum noch.

9.24 Uhr: Fall Nummer zwei: Jeanette, ein sechzehnjähriges schlaksiges Mädchen in Baseballjacke und Basketballschuhen, steht wegen Körperverletzung vor Gericht. Die Anklageschrift wird gar nicht erst verlesen, da trotz Vorladung weder das Opfer noch der Polizist erschienen sind, der Jeanette festgenommen hat. Im Sitzungskalender ist erst in drei Monaten wieder ein Termin frei. Jeanette kann nach vier Minuten nach Hause gehen — ebenfalls mit einer Belehrung des Richters: „Benimm Dich und geh in die Schule, sonst endest Du als Putzfrau!“

9.29 Uhr: Staatsanwalt und Verteidiger sortieren die Akten für Fall Nummer drei und vier wieder in ihre Kartons. Die Angeklagten sind nicht anwesend. Rosenblum läßt Haftbefehle ausstellen.

9.32 Uhr: Fall Nummer fünf. Der Angeklagte, ein sechzehnjähriger Teenager, befindet sich laut Akte in Untersuchungshaft im gleichen Gebäude. Nach fünf Minuten teilt der Gerichtssheriff mit, der Junge sei in U-Haft nicht aufzufinden. Die Verhandlung wird vertagt. Der Staatsanwalt schleudert die Akte wütend in den Karton zurück, der Pflichtverteidiger eilt in den Wartesaal, um sich mit dem nächsten Mandanten abzusprechen. In der Regel sehen sich der Angeklagte und sein Anwalt dort das erste Mal, oft nicht länger als fünf Minuten. Wenn es im Flur zu laut wird, zieht man sich in die Toilette zurück.

Fast-food-Justiz

Es gibt in den US-Großstädten kaum noch Strafgerichte, deren Alltag nicht an Massenabfertigung erinnert. Manche nennen es „Fließbandarbeit“, andere „Fast- food-Justiz“ — mit dem Unterschied, daß eine Mac Donald's-Filiale in der Regel besser organisiert ist. Der Bezirk Cook County umfaßt die Stadt Chicago und ihre Vororte, ein Einzugsgebiet von sechs Millionen Einwohnern. Sieben Richter, 27 Staatsanwälte und 27 Pflichtverteidiger bearbeiten hier jährlich 16.000 Fälle von Jugendlichen unter 18 Jahren. Arthur Rosenblum ist für die South- Side zuständig — das Schwarzen- Ghetto Chicagos. In seinem Büro türmt sich ein Berg von 1.300 bis 1.800 Akten. Die ihm zugeteilten Staatsanwälte und Pflichtverteidiger schlagen sich gleichzeitig mit 400 bis 500 Mandanten herum.

Wenn es nach der Präambel des Jugendstrafgesetzes im Bundesstaat Illinois geht, dann muß Rosenblum jedem einzelnen Jugendlichen die Fürsorge und Führung zukommen lassen, „die seinem moralischen, emotionalen, mentalen und physischen Wohlbefinden sowie den Interessen der Gesellschaft am besten dienen“. Wer diese Worte zitiert, erntet im Cook County Gericht heutzutage höchstens einen irritierten Blick. Noch vor zwölf Jahren war man in Chicago stolz darauf, nicht nur das älteste, sondern auch das progressivste Jugendgericht vorweisen zu können. Ende letzten Jahrhunderts hatte sich hier die Einsicht durchgesetzt, daß jugendliche Straftäter anders zu behandeln seien als Erwachsene. Das Gericht, 1899 gegründet, sollte die Rolle „zugeneigter und gerechter Eltern“ übernehmen.

Davon ist knapp hundert Jahre später nur die altväterliche Art übriggeblieben, mit der Arthur Rosenblum im Gerichtssaal den Vorsitz führt. Mit 72 Jahren ist Rosenblum längst im Pensionsalter, doch er wird noch gebraucht. Kaum einer der jüngeren Richter will hierhin versetzt werden. Hier baut man nicht an seiner Karriere, hier nimmt man statt dessen tagtäglich an einer Mischung aus Notstandsmanagment und absurdem Theater teil. Bei rund hundert Fällen pro Tag bleibt Rosenblum als einzige Form individueller Zuwendung die Strafpredigt.

Doch es ist natürlich ebenso hilflos wie grotesk, einen Teenager aus dem schwarzen Ghetto zu ermahnen, fleißig zu lernen und sich von Drogen und Gangs fernzuhalten. In manchen Sozialbauten Chicagos, den sogenannten housing projects mit mehreren tausend Mietern, lebt die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze. In solchen Vierteln ist die Sterblichkeitsrate von Neugeborenen höher als in manchen Dritte-Welt-Ländern. Hier beschloß sogar Mutter Teresa bei einem Besuch vor bereits zehn Jahren, Suppenküchen und Schutzräume für geschlagene Frauen und Kinder zu eröffnen. Vor allem aber sind die housing projects Kriegsgebiet verfeindeter Gangs, die sie in feindliches und freundliches Territorium aufgeteilt haben und wo sie mit Waffengewalt den Drogenhandel kontrollieren. Da lernen Vierjährige, wie man draußen in Deckung geht, wenn Maschinengewehrfeuer losbricht; da überlegen Mütter allabendlich, ob die Kinder im Bett schlafen sollen oder besser auf dem Boden — aus Angst vor Querschlägern. Sich in diesem Umfeld keiner Gang anzuschließen, erfordert viel Mut. Wer keiner Gang angehört, ist Freiwild für alle. Schon die Elf- und Zwölfjährigen wissen: Per Drogenhandel kommt man aus der Armutsfalle vielleicht heraus, aber nicht mit Highschool-Abschluß und Ferienjobs.

Ergo werden die Angeklagten jünger und die Delikte schwerer — nicht nur in Rosenblums Gerichtssaal. Elfjährige stehen wegen Mordes vor Gericht, Vierzehnjährige wegen Kokainhandel, Neunjährige werden der Vergewaltigung beschuldigt. Ähnlich einem pawlowschen Reflex wird der öffentliche Ruf nach Law and order gegen Jugendliche immer lauter. Wer als Staatsanwalt in diesen Zeiten auch nur den Anschein erweckt, Resozialisierung statt Strafe zu propagieren, riskiert seine Karriere. Schließlich werden Staatsanwälte in den USA gewählt.

Chicagos leitender Jugendstaatsanwalt Jack O'Malley hat eigens eine Abteilung gegründet, die Prozesse gegen Mordverdächtige unter achtzehn Jahen führt. 1991, so seine stolze Bilanz, endeten von 208 Mordprozessen 177 mit einem Schuldspruch. Freiheitsstrafe ist für ihn ein Mittel, „um die Kinder von der Straße zu holen“. „Kinder jagen uns heutzutage eine Todesangst ein“, pflichtet ihm Alex Williams, Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Maryland, bei. Jugendliche sollten häufiger vor einem Erwachsenengericht zur Verantwortung gezogen werden, findet er. Die Legislative des Bundesstaates Illinois hat inzwischen eine ganze Liste von Straftaten verabschiedet, für die Jugendliche ab fünfzehn wie Erwachsene vor einem Strafgericht verurteilt werden: Mord, Raubüberfall, sexuelle Nötigung, Waffenbesitz oder Drogenhandel auf dem Schulgelände, Drogenhandel im Umkreis eines housing projects.

Um rechtzeitig zur Wiederwahl eindrucksvolle Statistiken vorlegen zu können, verfährt Jack O'Malley nach dem Schrotflintenprinzip. Er läßt fast alles zur Anklage bringen, was die Polizei an Festnahmen und Anzeigen verzeichne, Kinder, die eine Packung Kaugummi geklaut haben; Kinder, die mit einer Platiktüte voll Kokain erwischt worden sind. Der Reformprozeß, vor hundert Jahren in Gang gesetzt, wird rückgängig gemacht: Kinder und Jugendliche werden wie Erwachsene behandelt. Gelder für Resozialisierungsprogramme wurden gestrichen und statt dessen in den Bau von Jugendgefängnissen investiert.

Die Prozeßlawine rollt

O'Malleys Prozeßlawine rollt unterdessen unaufhaltsam in Rosenblums Gerichtssaal. Jeder Jugendliche hat das Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb von 120 Tagen. Diesen Termin kann Rosenblum selten einhalten, also trickst er: Fristgerechte Eröffnung — und Vertagung nach fünf Minuten. Der Prozeß wird dann über die nächsten drei oder vier Monate „gestreckt“. Oft können sich die Polizisten nicht einmal mehr erinnern, ob der Angeklagte der ist, denn sie einst festgenommen haben. Zeugen bringen wichtige Details durcheinander; die Opfer der Straftat, oft Altersgenossen des Täters, verweigern nach der vierten Vertagung aus Angst schließlich doch die Aussage. O'Malleys Strategie erweist sich am Ende selbst aus seiner eigenen Sicht als kontraproduktiv: Über 60Prozent aller Prozesse werden eingestellt.

11.30 Uhr: Aufgerufen wird Fall 25, Richard Ewing. Der Fünfzehnjährige wurde wegen Drogenbesitzes bereits vor einem Jahr auf Bewährung verurteilt. In fünf Minuten verurteilt ihn Rosenblum zu dreißig Tagen Haft wegen Verstoß gegen Bewährungsauflagen: Er hat die Schule geschwänzt. „Solche Leute wie Dich brauchen wir zum Straßenfegen und Geschirrspülen“, sagt er dem jungen Schwarzen, der wortlos auf den Teppich starrt. „Der würde noch nicht mal Straßen fegen“, fährt der Staatsanwalt dazwischen, „der begeht eher noch mehr Verbrechen.“ Richards Pflichtverteidiger hat zu diesem Dialog nichts beizusteuern. Er hat bereits die Unterlagen für den nächsten Fall in der Hand. Sein Mandant wird abgeführt.

15.28 Uhr:Rosenblums Sitzungstag geht zu Ende: Fall Nummer 57, Lisa, ein zwölfjähriges Mädchen aus der South Side. Weil sie wochenlang nicht in die Schule gegangen ist und von der Polizei mehrfach nachts auf der Straße aufgegriffen wurde, steht sie unter Aufsicht eines Bewährungshelfers. Rosenblum will dessen Mandat verlängern, findet aber keine rechtliche Handhabe, weil gegen Lisa keine neueren Anzeigen vorliegen. „Wenn Du nicht zur Schule gehst, wirst Du später für andere Leute die Wäsche waschen. Du bist doch ganz hübsch. Du kannst es bis zur Sekretärin bringen.“ Das einzige Mal an diesem Tag erntet er Widerspruch. „Ich werde Ärztin“, sagt das Mädchen.