■ Dokumentation: Vierzig Kilometer nur trennen Afrika von Europa
: Afrikanische Schatten in Tanger

Woher sie kommen und wer sie sind, weiß niemand. Auch nicht, wie sie nach Tanger kamen. Seit einigen Monaten jedenfalls streifen Afrikaner in der Stadt herum. Ohne Papiere, ohne Identität, ohne sichtbaren Grund, die Hände in die Taschen gesteckt. Einige arbeiten auf dem Bau. Sie verderben die Preise, heißt es. Andere warten in Cafes oder auf irgendwelchen Plätzen. Sie halten zusammen. Sprechen mit niemandem. In der Stadt wird über sie spekuliert. Es heißt, sie kämen aus Somalia oder sogar Südafrika. Man sagt, sie seien Vorposten, „Botschafter“ einer kommenden Wanderbewegung. Das ist einleuchtend: Tanger ist das nahe Tor Afrikas zu Europa, ein Fenster zur nächsten Küste des alten Kontinents.

Vierzig Kilometer trennen Afrika von Europa. Eine kurze Überfahrt, einige Stunden auf einem grau gestrichenen Fischerboot. Am besten in der Nacht. Diese kleine Reise ist teuer: 10.000 Dirhams, etwa 1.900 Mark. Oft geht es schlecht aus: Das Meer wirft die Körper der Ertrunkenen auf den Sand von Almeria. Oder die spanische Polizei fängt sie ab, bevor sie ertrunken sind.

Was macht man mit Menschen ohne Identität? Wohin soll man sie zurückschicken? An welche afrikanische Botschaft soll man sich wenden? Es sind Menschen, gekommen aus dem Nichts. Einer Sache aber sind sie sicher: Um dem Hunger und einem sicheren Tod zu entkommen, lohnt es, jedes Risiko einzugehen.

Der Tod ist ein vertrauter Begleiter. Sie haben die Seelen aus den ausgezehrten Körpern ihrer Kinder entweichen sehen. Lange haben sie am Himmel nach Wolken gesucht, doch alle zogen vorbei. Sie haben auf humanitäre Hilfe gewartet, die kam, aber ebenso schnell von bewaffneten Banden einkassiert wurde. Heute ist es Somalia, das dahinsiecht. Gestern waren es Äthiopien, der Sudan. Morgen wird es vielleicht ganz Afrika sein, das auf eine gewaltige Katastrophe zusteuert.

Im Moment sind es noch flüchtige Schatten, denen es gelungen ist, zu fliehen. Sie, die nichts mehr zu verlieren haben, setzen alles auf eine Karte. Es sind Menschen, die die völlige Anonymität gewählt haben. Menschen, reduziert auf ihr nacktes Dasein, reduziert auf ihre Arbeitskraft. Sie haben entschieden, nichts zu erzählen, nichts von ihrer Vergangenheit, nichts über ihre Herkunft zu enthüllen. Für die spanischen und marokkanischen Behörden ist das widersinnig. Ein Ärgernis, das ihnen lästig ist.

Momentan sind weniger als hundert Afrikaner in den alten Arenen Tangers untergebracht. Gefangen in der Stille. Einige Fährleute machen ihr Glück im Schatten. Dann verschwinden sie. Man erzählt von einem Fährmann im letzten Jahr, der sich für besonders gerissen hielt. Statt seine Passagiere ans spanische Ufer zu bringen, fuhr er in der Nacht die marokkanische Küste entlang und setzte sie schließlich am anderen Ende des Strandes von Tanger ab. Zwei der getäuschten Afrikaner haben ihn am nächsten Tag erwürgt. Die Polizei hat sie festgenommen.

Geben wir uns keinen Illusionen hin: spontane, heimliche und gänzlich verzweifelte Wanderungen werden am Ende des Jahrhunderts zum Alltag gehören. Der massive Andrang von Albanern auf Italien vor zwei Jahren ist bereits ein Zeichen. Heute ist es ein Teil Afrikas, das unter Trockenheit, Hunger und Bürgerkriegen zusammenbricht, der zu fliehen versuchen wird. Wer kann, geht in den Norden und versucht von da aus in die europäische Festung einzudringen.

Europa weiß von alldem. Es schließt seine Türen und Fenster. Es verschärft seine Kontrollen. Es hat Angst. Gleichzeitig ist es von den Bildern der großen Not in Somalia ergriffen. Andere Bilder — ebenso unerträglich — werden bald regelmäßig über unsere Fernsehschirme flimmern; wie andere Gestalten, andere Schatten zwischen dem Kap Spartel und den Grotten des Herkules gegenüber den funkelnden Lichtern von Tarifa umherstreifen. Im Traum werden diese Menschen aus dem Nichts, die letzten Verdammten des Jahrhunderts, das Meer überqueren — ihre Herkunft und das Unglück vergessend, das sie von ihrer Erde gejagt hat.

Tanger ist nur eine Etappe. Die Afrikaner treffen sich in einem Cafe in der Medina wieder, dem Marhaba (Willkommen!). Dort sind sie unter sich. Sie beobachten die vorübergehenden Leute. Sie warten mit geduldiger Ruhe. Auch wenn sie sich auf afrikanischem Boden befinden, haben sie das Gefühl, Afrika sei fern. Es ist fern, weil sie von dem Cafe an der Steilküste aus die spanische Küste sehen. Die Lichter funkeln wie in einem Traum, wie in einem Märchen. Tahar Ben Jalloun

marokkanischer Schriftsteller, in Paris lebend; einige seiner Romane wurden auch ins Deutsche übersetzt, u.a. „Sohn ihres Vaters“; aus Le Monde vom 26.9.92. Übersetzung: Anja Dilk