■ Gastkommentar: Zum Nobelpreis für Derek Walcott
: Paternalismus, Europas letzte Bastion

Es ist aufschlußreich, daß der Nobelpreis für Literatur an Derek Walcott verliehen wurde, einen schwarzen Poeten, geboren auf der kleinen Karibikinsel Santa Lucía, der nicht nur dem breiten Publikum unbekannt ist, sondern auch einem großen Teil der Literaturkritik. Und es scheint mir ein simpler Akt des Anstands zu sein, zu fragen, worüber diese Tatsache Aufschluß gibt. Es ist wohl unvermeidlich, daß viele das Datum 1992, an dem sich die Ankunft Kolumbus' an den Küsten Amerikas — genauer: an den Küsten einer kleinen karibischen Insel — zum fünfhundertsten Mal jährt, in einem einfachen logischen Schluß mit der Verleihung des Nobelpreises an einen schwarzen und karibischen Dichter in Verbindung bringen und in der Folge die Auszeichnung für Walcott als Ergebnis einer politisch-historischen Verpflichtung der schwedischen Akademie sehen. Meine langen Jahre des polemischen Kontakts mit dem literarischen Eurozentrismus erlauben mir die Annahme, daß dies — von Ausnahmen abgesehen — das beherrschende Kriterium sein wird.

Diese subtile Form des Rassismus hat ein nur allzu klares Fundament. Über Jahrhunderte hinweg waren das Konzept der europäischen Literatur und das der Weltliteratur ein und dasselbe; was in anderen Teilen der Welt geschrieben wurde, war Folklore oder Objekt der Neugierde von Sinologen und Arabisten. Diese Vorstellung, die zumindest zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert eine unanfechtbare Wahrheit war, ist heute ein absoluter Anachronismus. Die Söhne und Töchter der ehemaligen Sklaven haben von der Sprache der Kolonisatoren Besitz ergriffen, sie erneuert und bereichert, und sie sind es heute, die am Kopf der Tafel Platz genommen haben und den Ton angeben. Europa jedoch weigert sich, dies anzuerkennen. Heimgesucht von den Gespenstern des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit, verschanzt es sich hinter den Mauern der Maastrichter Festung. Europas letzte Bastion ist der Paternalismus; ihm zufolge kann die Verleihung des Nobelpreises an Derek Walcott nichts anderes sein als ein Zugeständnis der Schwedischen Akademie an den 500. Jahrestag.

Mehr als ein Verbrechen ist dieser paternalistische Blick eine Dummheit. Ein großer Teil der europäischen Literatur beraubt sich damit der Bereicherung, die ein gleichberechtigter Austausch mit anderen Literaturen bedeuten würde. Schon 1983 hatte der russische Dichter und Kritiker Joseph Brodsky, ebenfalls Nobelpreisträger, die geistige und intellektuelle Feigheit benannt, die es bedeutet, die außerordentlichen Werte des Werkes von Derek Walcott nicht universell anzuerkennen.

Ohne Zweifel: Die schwedische Akademie hat klug entschieden. Die Literaturkritik, die Verleger und die Leser in Europa sollten nun so viel Weisheit zeigen, sich in aller Bescheidenheit dem Werk von Walcott zu nähern, des größten lebenden Dichters in englischer Sprache, der die Bescheidenheit, die Größe und das Genie hatte zu schreiben:

I'm just a red nigger who love the sea,

I have a sound colonial education,

I have Dutch, nigger and English in me,

and either I'm nobody or I'm a nation.

Jesús Díaz

Kubanischer Schriftsteller und Filmemacher. Er wurde ins Exil gezwungen, nachdem er vor einigen Monaten in einem obskuren Drohbrief des kubanischen Kulturministers Armando Hart rhetorisch zum Tode verurteilt wurde. Díaz lebt zur Zeit in Berlin.

Übersetzung: Bert Hoffmann