Lieber Rubel in der Hand...

... als den „Voucher“ auf der Bank/ Die Russen drängeln sich nicht, Eigentümer zu werden/ Aufklärungskampagne steht noch bevor  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Anatolij Tschubais gibt sich redliche Mühe. Fast abendlich erscheint Rußlands oberster Privatisierer dem Fernsehpublikum, um ihm die Idee des Privateigentums näherzubringen. Tschubais leitet derzeit die großangelegte Privatisierungskampagne, an deren Ende alle BürgerInnen Rußlands zu bescheidenen Eigentümern geworden sein sollen. Gleiche Startbedingungen in die neue Zeit zu schaffen, ist die Idee hinter der Reform. Noch lächelt Tschubais, wenn er tagtäglich zwischen Moskau und Wladiwostok mit ein und derselben rhetorischen Frage konfrontiert wird: „Will man uns wieder übers Ohr hauen?“

Die Russen können nicht glauben, daß ihnen der Staat kostenlos etwas abtritt. Bisher mußten sie sich hintenrum am Kollektiveigentum bedienen. Und das lief nicht abstrakt, sondern erforderte konkretes Geschick. Nun wurden sie alle ohne eigenes Zutun über Nacht Besitzer eines „Voucher“ mit dem Nominalwert 10.000 Rubel. Um ihn zu bekommen, müssen sie sich im Wohnbezirk registrieren lassen, ihn anschließend bei einer „Sberbank“, der Sparkasse, gegen Vorlage des Passes abholen und eine Bearbeitungsgebühr von 25 Rubeln entrichten. Mehr nicht.

Als am 1. Oktober die Umverteilung anlief, blieben die Schalterhallen gähnend leer. Lediglich ausländische Fernsehteams hatten sich eingefunden — in der Erwartung, Rußlands Einstieg in den Besitzindividualismus würde stürmisch verlaufen.

Die Verteilung der „Privatisierungsschecks“, wie Jelzin sie nennt, läuft noch bis zum 1. Januar. Eile ist daher nicht geboten. Nur die Regierung muß sich sputen, um den Bürgern klarzumachen, was es mit diesen „Voucher“ eigentlich auf sich hat. Schon jetzt kaufen Cleverle und Mafiosi Unkundigen ihre Berechtigung ab. 10.000 Rubel in der Hand sind besser als auf einem Stückchen Papier, sagen sich viele Inflationsgeschädigte. Vor allem RentnerInnen werden häufig Opfer der Beutejäger. Obwohl jedem freigestellt ist, den „Voucher“ zu verkaufen, verfehlt das den Sinn der Aktion: eine annähernd gleiche Chancenverteilung. Denn wenn sich ein Großteil der 180 Millionen Anteilsscheine in nur wenigen Händen sammelte, hätte sich das Staatsmonopol lediglich in ein privates verwandelt. Die Gegner der Marktwirtschaft versuchen deshalb das Privatisierungsvorhaben gänzlich zu diskreditieren.

Aktien machen nur dann einen Sinn, wenn die Privatisierung der Unternehmen schon fortgeschritten ist. Sie steckt aber noch in den Kinderschuhen. Betriebe mußten bis zum 1. Oktober eine Evaluierung ihres gesamten Betriebsvermögens einreichen und ihre Vorjahresbilanz offenlegen. Ein Drittel aller Staatsunternehmen sind zur Privatisierung freigegeben. Die Arbeitskollektive entscheiden dabei selbst, welche Form der Privatisierung sie bevorzugen.

Drei Modelle stehen zur Auswahl: Im ersten Modell erhält die Belegschaft 25 Prozent der Aktien ohne Stimmrecht mit garantierter Dividende. Weitere 10 Prozent der Aktien kann sie für 30 Prozent des Nominalpreises erwerben. In der zweiten Variante gehen 51 Prozent an das Arbeitskollektiv, wenn sich dieses zu zwei Dritteln für eine Privatisierung entscheidet. Innerhalb von drei Monaten muß dabei die Hälfte des Betriebsvermögens mit Vouchers bezahlt worden sein. Das dritte Modell sieht Privatisierung über einen Investitionsfonds vor.

Selbst wenn die Russen schon vertrauter wären mit der Wirkungsweise von Aktien, wie könnten sie unter den gegebenen Bedingungen ihre Wertpapiere guten Gewissens irgendwo investieren? In den meisten Fällen ist es schwierig, die Rentabilität eines Betriebes, seine Gewinnaussichten unter marktwirtschaftlichen Bedingungen und die Preisdynamik im jeweiligen Produktionssektor vorauszusagen — Mindestvoraussetzungen für jegliche Kapitalanlage.

Anatolij Tschubais meinte denn auch schmunzelnd auf die Frage, wieviel denn einer dieser Vouchers wert sei: „Die Summe von 10.000 Rubeln und 20.000 Dollar wurde genannt. Ich glaube, der reale Preis liegt irgendwo dazwischen.“ Für die Russen sind das alles Potemkinsche Dörfer. Der Sozialismus hat ihnen zwar das Warten auf die Zukunft in die Psyche gebrannt. Wenn es um Konsumption geht, schlagen sie aber unmittelbar zu. Abzuwarten, wohin nun mit dem Voucher, ist zuviel verlangt. Viele reagieren bis dato noch mit Ignoranz. Um dem Abhilfe zu schaffen, schlug der Petersburger Bürgermeister Sobtschak vor, auch Wohnraum und Grund und Boden in die Voucher-Privatisierung mitaufzunehmen. Darunter kann sich zumindest jeder etwas vorstellen, und das Interesse scheint dementsprechend zu wachsen.

Überhaupt nicht desinteressiert zeigten sich zwei Diebe in der Nähe des sibirischen Nowosibirsk. Sie stahlen gleich ein 100er-Paket Vouchers aus der örtlichen Sparkasse, das gerade frisch aus Moskau eingetroffen war. Ihr Vorteil: Die Schecks werden nicht mit Namen versehen.