Geschichte als Tragödie, Tragödie als Farce

■ Beim Theater ist Taboris Mittel die Groteske, die das Grauen mitschwingen läßt — ein Porträt

„Wer sind die wahren Dramatiker?“ fragte George Tabori einmal in einem Interview. „Im deutschsprachigen Raum kenne ich nur zwei: Brecht und Büchner“, lautete des Meisters eigene Antwort. Büchner hat er nie inszeniert, Brecht schon — vor allem aber Kafka, Beckett, Shakespeare und immer wieder Tabori — zuletzt die „Goldberg Variationen“ (1991) am Wiener Akademietheater.

Er spricht gut deutsch, nicht perfekt. Seine Rede ist immer charmant, der heute 78jährige wirkt von weitem wie ein schlaksiger, zu schnell aufgeschossener Jüngling mit Nickelbrille. „Er ist nicht alt geworden, er war immer alt“, schreibt Marta Andras, die Tabori noch aus Budapest kennt, wo er 1914 zur Welt kam und aufwuchs. Während des Zweiten Weltkrieges — sein Vater und Teile der Familie wurden nach Auschwitz deportiert und umgebracht — arbeitete er als Kriegsreporter für den BBC. 1945 ließ er sich in London nieder. Tabori schrieb dort vier Romane (der erste wurde vor kurzem ins Deutsche übersetzt: „Ein guter Mord“, Steidl Verlag) und ging 1947 als Drehbuchautor nach Hollywood. Über diese Zeit spricht er nicht gerne, er hat sie bissig in seiner Erzählung „Son of a bitch“ beschrieben.

Tabori war fast 60, als er Anfang der siebziger Jahre mit seinem Vietnam-Stück „Pinkville“ in die Bundesrepublik kam, blieb und noch einmal von neuem anfing. Zum Theater war er eher zufällig gekommen, seine erste Frau Viveca Lindfors ist Schauspielerin. Über sie stieß Tabori auch zu Lee Strasbergs berühmtem „Actor's Studio“, er sollte dessen Methode später in seiner Arbeit mit Schauspielern anwenden. Als 1977 bei seinem Stück „Die Hungerkünstler“ — frei nach Kafka — die Schauspieler tatsächlich über einen Monat lang hungerten, versuchte der Bremer Kultursenator das Experiment zu verbieten.

George Tabori ist kein begnadeter Regie-Gott, er experimentiert — und naturgemäß geht manches daneben. Die Uraufführung seines „Stammheim“-Epilogs, den er 1986 in Hamburg inszenierte, wurde zwar von Autonomen- Gruppen durch Diebstahl der Filmrollen verhindert. Aber verdient hatte es die eher brave Inszenierung nicht. Er arbeitet stets mit einem festen Kreis von Leuten („Der Kreis“ hieß darum auch sein letztes eigenes Theater in Wien, das er Ende der 80er Jahre wieder aufgab), im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Schauspieler. Tabori hat das hierarchische Staatstheater immer abgelehnt und ist, insofern man ihm die gewünschten Arbeitsbedingungen und ungewöhnliche Spielstätten („Kirchen, Keller, Katakomben“) garantierte, auf Einladung doch dorthin zurückgekehrt — die Skandale blieben nicht aus. An den Münchner Kammerspielen inszenierte er 1985 in „M“ seine Version des Medea-Stoffs: Nicht sie, sondern Jason ist der Mörder des Kindes, das von dem behinderten Schauspieler Peter Radtke gespielt wurde.

Aber Tabori ist nicht nur ein Theatermann, er schreibt, und zwar in Englisch. Selbst seine Stücke entwirft er zunächst als Prosa. Ob in „Die Kannibalen“ (1972), „Mutters Courage“ (1979) oder „Mein Kampf“ (1987), „Masada“ (1988) und zuletzt in den „Goldberg Variationen“ (1991) — Tabori kommt immer wieder auf ein Thema zurück: die Tragödie seiner Familie, der Massenmord an den europäischen Juden, der Schuldkomplex der Überlebenden, die Geschichte als Tragödie und die Tragödie als Farce. Tabori setzt in die Tat um, was Hannah Arendt am Fall Eichmann diagnostiziert hat: die Banalität des Bösen. Sein Mittel ist die Groteske, die das Grauen mitschwingen läßt, ihm aber das Absolute nimmt. „Der tiefste Grund für Antisemitismus ist weder ökonomisch noch xenophobisch“, schrieb Tabori vor kurzem, „sondern dies unbewältigte Gefühl des Scheiterns. Die Präsenz eines einzigen Juden genügt, uns daran zu erinnern, daß unsere Geschichte eine verbrecherische ist. Und so projizieren wir unser Verbrechen auf den, der, so denken wir, uns zum Verbrecher stempelt.“

Das Wort „scheitern“ hat zentrale Bedeutung, ist fast ein Gebot: Hieran — und dabei beruft sich Tabori auf die beiden großen Schauspiellehrer Stanislawski und Strasberg — muß sich der Mensch abarbeiten. Oder wie es der berühmte Mr. Jay in den „Goldberg Variationen“ sagt: „Scheitern, immer scheitern, wieder scheitern, besser scheitern.“ Wer soviel gescheitert ist wie George Tabori, immer wieder, immer besser, hat den Büchner-Preis verdient. Sabine Seifert