Sanssouci
: Vorschlag

■ Das Ensemble Modern im Kammermusiksaal der Philharmonie

Neue Musik, das ist kein Geheimnis, macht das Zuhören so schwer wie möglich. Jedenfalls wenn sie ihren Namen verdient. Neu soll ja möglichst alles sein: das Auto, der Lover, die Frisur, die Zeitung. Aber, na ja, ein bißchen wie bisher sollten die Sachen dann doch wieder sein, allein um sie wiedererkennen zu können. Und ein Auto, das Räder wie Milchtüten hat und über den Asphalt humpelt, ist das noch ein Auto? Und wie ist das mit der Neuen Musik. Irgendwie noch Musik, klar — wird ja schließlich mit bekannten Instrumenten produziert —, aber die vier Räder sind nicht immer so ohne weiteres zu erkennen. Und so richtig vorwärts rollt das auch nicht. Also was? Musik ist nicht nur alt oder neu, sondern gleichfalls bekannt oder unbekannt.

Im Kammermusiksaal der Philharmonie spielt das Ensemble Modern (Peter Eötvös dirigiert, und Saschko Gawriloff bedient die Violine) das Violinkonzert von György Ligeti. 1990 geschrieben, ist es noch ziemlich frisch. Ligeti, der sich von fraktaler Geometrie und „Chaostheorie“ ebenso beeinflussen läßt, wie von den Rhythmen südlich der Sahara und der Mikrotonalität Südostasiens, arbeitet mit einer Unzahl von Schichten, die nur übereinandergelagert musikalischen Sinn ergeben. Jede Stimme ist zwar von den anderen etwas verschieden, aber was zählt, ist der Gesamteindruck, den das Gewebe macht. Warum das Ganze trotz aller Neuerungen so impressionistisch klingt, als habe Messiaen eine Huldigung an Debussy geschrieben? Wer's rausbekommen hat, kann dem Komponisten eine Postkarte schreiben.

Dagegen sind Luigi Nonos Polifonica-Monodia-Ritmica von 1951 und Canti per 13 von 1955 zwar vergleichsweise alt, klingen aber merkwürdig unbekannt. Auf den ersten Blick zerfallen die Stücke in einzelne Tupfen, durch die Instrumente verschieden gefärbt — geht man aber den Wegen des Komponisten nach, erweist sich jeder Ton als Kreuzung, von dem aus sich zu jedem anderen Ton eine Beziehung herstellen läßt. Diese Musik muß stets neu entziffert werden. Dann entsteht aus der Ansammlung von Farbklecksen ein Gebilde, ein mehrdimensionales Gefüge einzelner Klangatome, das sich selber trägt, ohne des Soundkleisters zu bedürfen. Helmut Lachenmanns Musik ist ebenso neu wie ungewohnt. „... Zwei Gefühle ...“ für Kammerorchester mit zwei Sprechern wurde erst vor wenigen Tagen uraufgeführt. Daher ist darüber, wie über alles Neue, noch wenig zu sagen. Nur soviel: der Text ist von Leonardo da Vinci, der ja in seine Manuskriptblätter verschiedene Male zwischen die Studien, Zeichnungen und Skizzen zu Versuchen düstere Visionen über die möglichen Folgen seiner Erfindungen geflochten hat — mit hastiger Hand hingeworfen, bevor das Traumbild verfliegt. Das Neue, das er schuf, war zugleich das völlig Unbekannte, von dem er nicht wußte, was es der Zukunft bedeutet, aber ahnte, daß er es nicht ermessen werde. Das Werk, dem Schöpfer ein Rätsel, dem Betrachter ein Mysterium.

Mit der Musik ist das nicht anders. Einfach hinnehmen — die Frage verhallt. Frank Hilberg

Heute, 20 Uhr