Ein Mythos weniger

Kondolenzbriefe von van Goghs Freunden veröffentlicht  ■ Von Stefan Koldehoff

Daß Vincent van Gogh ein unverstandener rothaariger Maler gewesen sein muß, daß ihm die südfranzösische Sonne den Verstand raubte und er in seinem ganzen Leben nur ein einziges Bild verkaufte, stand in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg als historisch gesichert fest. Heute fügt sich nur allzu gut als tragisch- romantische Schlußpointe ins seit Jahrzehnten sorgsam gepflegte Bild vom unverstandenen Genie, das nicht einmal die eigene Familie liebte, ein, daß Van-Gogh-Werke inzwischen auf dem internationalen Kunstmarkt mit Abstand am teuersten gehandelt werden.

Tatsächlich weiß selbst der interessierte Kunstfreund über keinen anderen Künstler so wenig Wahres als über den frühvollendeten Niederländer. „Es ist allein die Aura eines Künstlers, die im Handel bewertet wird“, hatte schon Walter Benjamin richtig erkannt.

Die Kunsthistoriker am Rijksmuseum Vincent van Gogh in Amsterdam haben die meisten der langlebigen Maler-Mythen in den vergangenen beiden Jahrzehnten seit Gründung des Museums zweifelsfrei widerlegt. Längst ist dokumentiert, daß der Maler verschiedene Bilder verkaufen und — wie üblich — tauschen konnte. Längst steht fest, daß van Gogh sich allenfalls einen winzigen Teil des linken Ohrläppchens abschnitt und daß das von jeder Hausfrau dafür gehaltene blau-gelbe „Weizenfeld mit Krähen“ gar nicht des Meisters letztes Werk sein kann.

In Symposien und Fachbüchern wurden diese Forschungsergebnisse vorgestellt, eine breitere Öffentlichkeit erreichten sie auf diesem Weg kaum. Eine außergewöhnliche Ausstellung soll deshalb zur Zeit in Amsterdam mit einem der letzten unbearbeiteten Van-Gogh-Mythen aufräumen. Sie belegt zweifelsfrei, welch großen Ruf van Gogh schon zu Lebzeiten unter seinen Malerkollegen als Künstler und in der eigenen Verwandtschaft als Mensch genoß. Nicht Gemälde oder Zeichnungen treten hierfür den Beweis an: Im lichtgeschützten Zwischengeschoß des Museumswürfels an der Paulus-Potter-Straat sind jene Briefe ausgestellt, die die Hinterbliebenen zum Tode Vincent van Goghs erhielten.

Wer sie aufmerksam liest, wird feststellen, daß van Gogh von ihnen alles andere als verachtet und belächelt wurde. „Ich habe Ihnen schon von meinen Gefühlen für Ihren Bruder berichtet“, schreibt am 15.August 1890 Claude Monet an Vincents Bruder Theo. Schon im Frühling des Jahres hatte er den Brüdern mitgeteilt, die zehn im „Salon des Independants“ ausgestellten Werke van Goghs seien „die besten von allen in der Ausstellung“. „Ich fühlte wirklich eine große Zuneigung zu ihrem Bruder, der den Geist eines Künstlers und der unter den jungen Künstlern eine große Leere hinterlassen wird“, ergänzte der schon 60jährige Camille Pissarro in seinem Kondolenzbrief.

Andere Zeitgenossen äußerten sich nicht weniger ehrfurchtsvoll: Als „Künstler, eine seltene Sache in unserer Epoche“, adelte Gaugin den Verstorbenen. „Sie wissen, welch ein Freund er für mich war und wie begierig er mir seine Zuneigung zeigte“, erinnerte sich Henri de Toulouse-Lautrec in seinem Brief an Theo van Gogh. Beinahe prophetisch sagte der Kritiker Albert Aurier, der schon zu dessen Lebzeiten einen bewundernden Artikel über van Gogh geschrieben hatte, voraus: „Menschen wie er sterben nicht ganz. Er hinterläßt einen Körper von Bildern, der Teil von ihm ist, und der eines Tages, Sie und ich können sicher sein, dafür sorgt, daß sein Name für die Ewigkeit wieder leben wird.“

Einige der Briefeschreiber hatten selbst an van Goghs Beerdigung auf dem kleinen Friedhof von Auvers-sur-Oise, wenige Kilometer nördlich von Paris, teilgenommen. Andere konnten ihre tief und ehrlich empfundene Traurigkeit nur schriftlich mitteilen. Alle Briefe dokumentiert das zweisprachige „Cahier Vincent 4“, das damit die so wichtige wie notwendige Ergänzung zu den vorliegenden Ausgaben der Briefe van Goghs darstellt.

Nach dem Tod Theos, der seinem Bruder nur ein Jahr später in den Tod folgte, war dessen Witwe Johanna nämlich zunächst vor allem damit beschäftigt, den Nachlaß der Brüder zu ordnen und trotz finanziell notwendiger Verkäufe den überwiegenden Teil der Gemälde und Zeichnungen Vincent van Goghs zusammenzuhalten. Erst 1914 kam sie dazu, die ersten drei Bände der Briefe herauszugeben. Der Legendenbildung konnte sie damit schon kaum mehr entgegenwirken: Vincent van Goghs Gemälde wurden durch die engagierten Bemühungen des Berliner Galeristen Paul Cassirer in Deutschland inzwischen außerordentlich geschätzt.

„Die Legendenbildung zu fördern, ist der Zweck des Buches ,Vincent‘. Denn nichts ist uns nötiger als neue Symbole, Legenden eines Menschentums aus unseren Lenden“, hatte 1914 Julius Meier- Graefe der Orientierungslosigkeit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entgegengeschrieben. Sein van Gogh lebt in seiner eigenen Welt, wird von den Mitmenschen nicht verstanden — ihn hält nur die Kunst am Leben. Aussagen von Zeitgenossen, etwa die des Briefträgers Joseph Roulin, der van Gogh als geselligen Menschenfreund schilderte, widersprechen diesem Bild heftig. „Gegen die Legenden aus 102 Jahren kommen aber auch wir kaum an“, befürchtet trotz aller Anstrengungen selbstkritisch Sjraar van Heugten vom „Van Gogh Research Project“. „Wir versuchen es trotzdem immer wieder.“ Mit der Veröffentlichung der bis dato weitgehend unbekannten Kondolenzbriefe ist ein weiteres Stück kunsthistorischer Aufklärung gelungen.

Ronald Pickvance: „A Great Artist is Dead. Letters of Condolence on Vincent van Gogh's Death“. ('Cahier Vincent 4). 160 Seiten mit zahlreichen Faksimiles und s/w- Abbildungen. Waanders Uitgevers, Zwolle, Dfl. 49,50.