Störung im Datenfluß

Ein Doppelporträt: Michael Ashers Vorzimmer im Brüsseler Palais des Beaux-Arts  ■ Jochen Becker

Victor Horta, Erbauer des Brüsseler Art-deco-Palais für die Schönen Künste, entwarf die Räumlichkeiten des nun von Dirk Snauwaert kuratierten Antichambre- Programms als Vorzimmer zu den dauerhaften Werten. Michael Asher nutzt die beiden Säle für ein Doppelporträt zweier Architekten, des Amerikaners William Mudholland und des Belgiers Victor Horta. Das nach langjähriger Planungsphase 1928 fertiggestellte Palais blieb Hortas letzter Bau. Im gleichen Jahr brach ein Staudamm des kalifornischen Wasserbauarchitekten Mudholland und bedeutete das Ende seiner Karriere.

Ausgehend von dieser Zufälligkeit entwickelt Michael Asher zwei Lebensläufe, die sich in den Daten der Bauten, in Zeitungsartikeln und in Spielfilmen widerspiegeln. Die Wände des ersten Raums sind nüchtern und großflächig mit einer Liste der angefertigten Bauten beschriftet: Auf der einen Seite Hortas Privathäuser, Hotels und zwei öffentliche Gebäude; auf der anderen Mudhollands Staudämme, Wasserreservoirs und Äquadukte. Im zweiten Raum, gleichfalls durch die Raumdiagonale geteilt, hängen an den Längswänden aus Mikrofilm-Archivbeständen wieder zur Originalgröße hochkopierte Zeitungsseiten, an den Querwänden Kritiken und Standfotos zu zwei Spielfilmen. Die historischen Dokumente tragen Spuren der Reproduktionsverfahren, was ihre Lesbarkeit erschwert. Auf den Titelseiten kalifornischer Lokalblätter zur Linken wird von Hortas Vorträgen über belgische Baukunst berichtet, welche der von 1915 bis 1919 in die USA Übergesiedelte hielt. An Ashers serieller Anordnung der Zeitungen läßt sich ablesen, daß Horta sich auf seiner Reise durch amerikanische Universitätsstädte mit kleinen Variationen wiederholte. So warnte der erfolgreiche Architekt mehrfach vor der Zerstörung historischer Gebäude durch die deutsche Artillerie. Kurz vor Kriegseintritt der Amerikaner machte er Stimmung gegen die deutschen Gegner und behauptete, daß die Deutschen sich einer Propagandalüge bedienten — hinter jeder belgischen Kathedrale stehe die französische Armee —, um diese rücksichtslos zu zerstören. Nicht ganz zufällig ist auf der letzten ausgestellten Zeitungsseite neben der Vortragsbesprechung auch eine Liste der einberufenen US-Soldaten abgedruckt.

Nach Rückkehr von seiner ausgedehnten Studien- und Vortragsreise übernahm der Postkarten- Architekt des Art deco zwar modernste amerikanische Bauweisen wie den Betonguß. Doch statt auf bereits existierende Industrieprodukte zurückzugreifen, ließ Horta jede Tür, jeden Heizungskörper und jede Lampe im Palais des Beaux-Arts einzeln anfertigen. So entstand ein Hybridgebilde aus industrieller Bausubstanz und handgefertigten Unikaten.

Der Präsentation kalifornischer Berichte über die Vortragsreise des Belgiers Horta hängt Asher belgische Zeitungsseiten zum spektakulären Deichbruch 1928 gegenüber. Hierbei wurde nie ganz geklärt, ob William Mudhollands Staudamm wegen Sabotage der ehemaligen Landbesitzer oder Fehlern bei der Bauplanung barst. Der kalifornische Karrierearchitekt kaufte zu Beginn dieses Jahrhunderts den nichtsahnenden Bauern in den Hügeln vor Los Angeles das Land billig ab, um durch den Bau von Äquadukten und Staudämmen das explosionsartig wuchernde Los Angeles mit Quellwasser zu versorgen. Mudholland verdiente seinen Lebensunterhalt weniger als Architekt denn durch Bodenspekulation. Er wurde bald zum Herr über das Wasser für die Region, das er lieber ungenutzt ins Meer fließen ließ, als sich dem Druck der Stadtverwaltung oder Bauern zu beugen.

Beide Reihungen von Dokumenten werden mit einer Filmkritik abgeschlossen: Bei Horta findet sich die Besprechung einer zeitgenössischen Literaturverfilmung, welche sich der liberalen Dekadenz des Art deco annimmt und auch einige Horta-Bauten als Schauplätze nutzt. Zu William Mudholland fügte Asher eine Kritik über Roman Polanskis 1974 fertiggestellten Spielfilm „Chinatown“ hinzu. Jack Nicholson verkörpert hier einen Detektiv, der im Umfeld der Behörde für Wasser- und Energieversorgung auf eine großangelegte Landspekulation stößt. Polanski stützte sich bei „Chinatown“ auch auf Mudhollands korrupte Verwicklungen. Aus diesem Grunde hält die Wasserbehörde Mudhollands Nachlaß unter Verschluß; Asher brauchte im Unterschied zur relativ kurzfristigen Recherche über Victor Horta zehn Jahre, um das passende Material für diese Ausstellung zusammenzusuchen.

Doch was verbindet den Errichter von Staudämmen aus Stahlbeton mit dem neben Henry van de Velde vielleicht wichtigsten Baumeister des Jugendstils? Michael Asher erzwingt durch sein formal identisches Vorgehen eine Entsprechung der beiden Architekten, welche nicht ersichtlich erscheint. In der Gegenüberstellung fordert Ashers Präsentation Analogien ein, die er selbst nur lose andeutet und deren Herausbildung er dem Besucher überläßt. Doch auch nach der Durchsicht des faktischen (Baudaten), journalistischen (Zeitungsartikel) und fiktiven (Spielfilme) Materials ist die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Zeitgenossen nicht greifbarer geworden. Asher unterschlägt sogar bewußt den Hinweis auf ein deutliches Bindeglied: Auf seinen Streifzügen zu den Stätten amerikanischer Baukunst hatte Horta auch die Wasserbauten von William Mudholland fotografiert.

Die Brüsseler Ausstellung ist für die Arbeit des kalifornischen Künstlers ungewöhnlich. Bisher hatte Asher in ansonsten leeren Räumen architektonische Details verändert, um durch das Fehlen von Wänden oder die Art der Beleuchtung scheinbar Selbstverständliches zu akzentuieren. Nun nutzt er jedoch die Wände des Palais als Daten-Träger, wobei die konkrete Raumsituation von sekundärem Interesse bleibt. Doch das vorschnell vom Besucher als Kommunikationsangebot angenommene Doppelporträt, durch Ashers formale Gleichbehandlung der beiden ungleichen Architekten provoziert, stockt: Der Erwartung, daß es doch einen Punkt der Verknüpfbarkeit geben muß, steht auch nach der Lektüre keine befriedigende Antwort gegenüber.

In Brüssel verlagert sich die Störung des Selbstverständlichen von der örtlichen Situation (scheinbar leerer Raum) hin zur Störung des üblichen Kommunikationsprozesses (scheinbar leere Daten). So ist die eigenartig erzwungen wirkende Gegenüberstellung Horta— Mudholland und der fortwährende Aufschub einer Lösung des Beziehungsrätsels möglicherweise eine Strategie, den Prozeß der Wissensaneignung zu verdeutlichen. An Stelle der Rezeption des konkreten Ortes tritt die Frage nach dem Prozeß des Interpretierens und Sich-Informierens. Die Beobachtung des Vorgangs, wie Informationen gesammelt und miteinander verknüpft werden, wäre hierbei entscheidender als der reine Wissensgehalt.

Bis zum 8. November. Der Katalog erscheint im nächsten Jahr.