„Die Differenz nicht leben können“

■ Fatima Mernissi vergleicht Fundamentalismus und deutschen Fremdenhaß

Kreuzberg. Selbst mit einem urdeutschen Schnupfen behält sie ihren orientalischen Charme. Mit Witz und Ironie trägt Fatima Mernissi, marokkanische Soziologieprofessorin und berühmteste Feministin des Maghreb, am Montag abend Thesen aus ihrem letzten Buch vor. Titel: „Die Angst vor der Moderne — Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie“.

Ein ähnliches Buch mit einem leicht veränderten Titel, das wird irgendwann klar, könnte auch hier geschrieben werden. In Marokko gebe es zwar kein solches Zentrum, stellt Fatima Mernissi vor der multikulturellen Zuhörerschaft im Kreuzberger „Nachbarschaftshaus für interkulturelle Begegnung“ fest. Dennoch sei es keineswegs nur die arabische, „sondern auch die hiesige Kultur“, die es nicht verstehe, „die Differenz zu leben“. Also mit den Unterschieden zwischen den Rassen, Geschlechtern, Religionen, Meinungen produktiv umzugehen. Wenn Deutsche Ausländer attackieren, befindet sie, zeuge das von einem Fundamentalismus, der sich vom islamischen kaum unterscheide und ebenso von der Angst genährt werde — vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. „Fundamentalistische Bewegungen tragen einen starken Klassencharakter“, glaubt Frau Mernissi. „Ihre Mitglieder haben keine Nummernkonten in der Schweiz. Sie sind eine Volksbewegung der Marginalisierten.“

Und da die Arbeitslosigkeit aufgrund von Digitalisierung und Informatisierung weltweit stark zunehme, sei hier keine Besserung in Sicht — wobei die ökonomische Krise in den Maghreb-Ländern ungleich schlimmer sei als hierzulande. Drei Viertel aller jungen Menschen dort seien ohne Job. Als die europäischen Länder in den achtziger Jahren begannen, die Einwandererquoten zu reduzieren, habe sich der Fundamentalismus in Nordafrika besonders stark entwickelt. Offenbar nicht nur wegen der enttäuschten ökonomischen Hoffnungen, sondern auch wegen der erlebten Doppelmoral des Westens, „der vom Universalismus der Menschenrechte redet und die Leute zurückweist“. Die EG gehe mit „einer Art Stammesverhalten“ gegen die nordafrikanischen Einwanderer vor.

Der größte Schock sei jedoch der Golfkrieg gewesen, für ihre Gesellschaft und für sie ganz persönlich. Als Frau „immer eingekeilt zwischen der moslemischen Tradition und der europäischen Demokratievorstellung“, habe sie bis zu diesem Golfkrieg die Illusion gehabt, beides sei vermittelbar. „Ich sah die archaische Seite des Westens nicht mehr. Und plötzlich war ich zwischen vielen Archaismen eingekeilt. Das war ein Krieg um Grenzen — zwischen der westlichen und der arabischen Welt, zwischen Frauen und Männern.“

Die Entgrenzung der Welt durch die Moderne macht Angst, und Angst macht fundamentalistisch, so könnte man, äußerst grob, ihre Thesen zusammenfassen. Wo bleibt dann aber noch eine Hoffnung? Ach, sie sei dennoch „sehr optimistisch“, denn paradoxerweise habe der Golfkrieg die arabischen Regime in den Prozeß der Demokratisierung gezwungen. Und „je mehr sich ein Land demokratisiert, desto mehr individuelle Verantwortung lernen die Menschen, desto mehr gelingt es, die Gewalt einzudämmen.“ Wahrscheinlich gibt es auch gegen den deutschen Fundamentalismus kein anderes Rezept. Ute Scheub