Erneut Bedenkliches

Der Tod enthebt, so sagt man, aller Verbindlichkeiten. Dies gilt für die Verstorbenen, vor allem aber machen die Lebenden gern von dieser Absolution Gebrauch: Die Zeremonie des Heimgangs, die Zerwürfnisse schon bei der Sitzordnung derselben und die Zweifelsarbeit am Testamente zeugen vom Bedürfnis nach Entschädigung für das Verschwinden des Toten, der im Streit erneut Gestalt gewinnt. So sinken alle Hoffnungen auf Endgültigkeit mit der Leiche in die Grube, und das Natterngezücht erhebt das mäßig frisierte Haupt: Verteilungskämpfe rufen all jene auf den Plan, deren Position im Leben auf der des Toten ruhte.

Insofern überrascht die Meldung keineswegs, daß die letztlegitime Gefährtin des großen Toten Willy der Geschiedenen Rut Brandt die Anteilnahme nicht nur an der familiären Bestattung verweigert, denn im dunklen Wirrwarr der Trauer müssen Entscheidungen die lichten Schneisen der Abfuhr schlagen. Wer sich mit den Enkeln vornehmlich in reglementierender Absicht beschäftigt, wird die Großmutter nicht umarmen wollen, und welche polemische Gegenwart zehrte denn nicht von der Vergeßlichkeit des Gemüts? Erstaunlicher ist eher, daß der Berliner Staatsakt zu Ehren des Dahingeschiedenen ohne die Dame auszukommen beschloß, die zwanzig Jahre lang die BRD mit Stil und Würde vertreten hat: Wo 2.400 Stühle Platz haben, wäre doch auch ein Schemel für Rut Brandt zu haben gewesen? Das Protokoll des Innenministeriums erteilt hierzu artig die Auskunft: Selbst „international“ sei es „nicht üblich, alle Ehemaligen zu versammeln: Wir können sie doch nicht gleich behandeln!“

Hier liegt in Tat und Wahrheit ein Problem, worauf wir eingangs bereits hingewiesen haben: Es könnte der unheilvolle Fall eintreten, daß ein Gast des Auslands, mit der international geschliffenen Amnesie unvertraut, an Frau Seebacher-Brandt vorbei auch jener Hinterbliebenen die nackte Hand reichen will, deren Gesicht verbindliche Erinnerungen rührt. Welcher Protokollchef wollte sich wohl dazwischenwerfen, die Kondolenz in die richtig beringten Hände zu leiten? Da scheint es das kleinere Übel, von jener Erscheinung abzusehen, die, ohnehin ins Ausland abgedankt, einmal zu der nun umflorten BRD gehörte: Man erspart sich so auch die Erwähnung des Umstands, daß zu einem großen Mann in der Praxis eine Frau gehört, die Bandscheiben und Rückgrat stärkt und treu die Pflicht erfüllt, für Deutschland weltweit zu lächeln. Der Traum vom großen Paar ist ganz gewiß ganz und gar ausgeträumt, aber muß deshalb die Kleinlichkeit den freigewordnen Platz besetzen? Und kann die Bundesrepublik sich nicht anders präsentieren als ein Haufen kleinbürgerlicher Erbschleicher, der, von der Wollust der Aneignung hinterbleibender Ehren beseelt, den Leichenredner zur beredten Lückenhaftigkeit ermuntert? ES