Die Zeitbombe Drogenpolitik tickte in Bremen schon bedrohlich, Anwohner hatten sich radikalisiert. Gestern nun hat der Senat der Hansestadt entschieden, den Stein des Anstoßes, den Junkiestrich im Szeneviertel Ostertor/Steintor, ohne Alternativangebote ersatzlos zu zerschlagen.

Bremer Junkies aus dem Blickfeld

Susanne zerrt am Kragen ihres Pullovers, bis der Hals freiliegt. Ihr Freund Thorsten kniet über ihr, kämmt mit der linken Hand ihre Haare zur Seite. Die rechte drückt die Luft aus der Kanüle und sticht die Spritze in den Hals der jungen Frau. Ein Schuß Heroin. In Bremen setzen ihn zwischen 1.500 und 2.000 Menschen mehrmals täglich — in Kelleraufgängen, auf Spielplätzen, in Ladenpassagen. Bei Susanne und Thorsten dagegen schauen 200 Menschen zu, angeekelt und gefesselt zugleich: Für eine knappe Stunde ist der Bremer Marktplatz zwischen Bürgerschaft und Rathaus zum öffentlichen Druckraum geworden.

Das war am 26. August, der Konflikt um die Bremer Drogenpolitik hatte mit diesem öffentlichen „Druck In“ einen neuen Höhepunkt erreicht. Seit dem Wahlkampf zur letzten Bürgerschaftswahl im September 1991 eskalierte das Drogenelend in der Hansestadt, konzentriert auf die beiden Stadtviertel Ostertor und Steintor. Und mit dem Elend wuchs der Protest der Anwohner. Denn im „Viertel“, wie die beiden Stadtteile in Bremen heißen, sind die einzigen Anlaufstellen für Junkies, die diesen Namen verdienen: die staatliche Drogenberatungsstelle Drobs, wo die Abhängigen einen Kaffee bekommen und Wunden versorgen lassen können, Therapie-Beratung inklusive; der Verein für Akzeptierende Drogenarbeit, wo Spritzen getauscht werden können; und ein Frauenhaus für drogenabhängige Prostituierte. Außerdem war hier bis vor kurzem die zentrale Anlaufstelle für mehr als 300 substituierte Methadonpatienten und — der Drogenstrich.

Anwohner wollen „mit dem Knüppel rein“

Allein in diesem Jahr sind in Bremen 64 Menschen an den Folgen des Gebrauchs harter Drogen gestorben, in Hamburg sind es 110; die Metropole an der Elbe hat aber viermal soviel Einwohner wie Bremen. Hier wird das bundesweit größte Methadonprogramm gefahren, derzeit sind über 400 PatientInnen in der Polamidon-Behandlung. Und trotzdem sterben in Bremen die Junkies auf Kinderspielplätzen, in Vorgärten, auf Schulhöfen. Drogenabhängige Frauen bedienen Freier in Hauseingängen, die Abhängigen verrichten ihre Notdurft auf offener Straße.

Die Verelendung und ihre Folgen haben die Bewohner zusehends radikalisiert. Im „Viertel“ wohnen tolerante Leute, die sich hier im Zuge einer vorbildlichen Stadtteilsanierung in den 70er Jahren ein Haus gekauft haben. Die Grünen bekamen hier bei der letzten Landtagswahl zwischen 35,9 (Ostertor) und 36,2 (Steintor) Prozent der Stimmen, im Stadtteilparlament führt der Grünen-nahe Ortsamtsleiter Dietrich Heck das Zepter. Und trotzdem werden die Töne aus dem Viertel immer schärfer. „Plötzlich habe ich faschistoide Gefühle“, erklärte in der letzten Woche ein Anwohner dem Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier. „Dann habe ich diese Gedanken, daß ich da mit dem Knüppel rein will.“

Seit dem Bestehen der Bremer Ampelkoalition hat der Liberale Friedrich van Nispen das Innenressort übernommen. Das schwere Erbe des Sozialdemokraten Peter Sakuth trat er mit einer Polizeioffensive an. Die offene Dealerszene, bislang unter den Augen des SPD-Senators geduldet, versorgte die Kunden mit Stoff wie aus dem Bauchladen: Kokain, Heroin, Pillen — das schmucke Viertel glänzte durch eine erlesene Angebotspalette auf dem Betäubungsmittelsektor. Mit der Polizeioffensive verzogen sich die Junkies in die Seitenstraßen, sie kamen von der Straße; dafür lagen sie in den Vorgärten.

Wählerinitiative zieht gegen Drogenpolitik zu Felde

Kaum eine Straße blieb ohne Anwohnerversammlung, kein Spielplatz ohne Elterninitiative. Bei den Wahlen zu den Stadtteilparlamenten zog die Wählerinitiative „Wir im Viertel“ erstmals mit 14,7 Prozent in die Beirat genannte Volksvertretung ein. Einziger Programmpunkt: die Drogenpolitik im „Viertel“.

Mit dem heißen Sommer eskalierte die Situation. Die Junkies lagerten zu Dutzenden in einem öffentlichen Park, hinter sich ließen sie eine Spur aus blutigen Spritzen, Fäkalien und Utensilien der Beschaffungsprostitution. Mit Bauzäunen riegelten die Anwohner jedes Fleckchen ab, auf dem sich die Abhängigen ihr Gift spritzten. Die sozialdemokratische Sozialsenatorin Irmgard Gaertner ist von Anwohnern gleich zweimal verklagt worden. Und die Drogenberatungsstelle soll schließen, weil sie im Wohngebiet verwaltungsrechtlich unzulässig ist.

Die Polizeioffensive war lange Zeit das einzige, was der Bremer Senat dagegensetzen wollte. Die Sozialsenatorin versprach Wohnungen für die obdachlosen Junkies, von denen es in Bremen nach offizieller Version etwa 200 geben soll. Aber nichts geschah. Erst im August schlug der Innensenator vor, einen der neuralgischen Punkte im Drogenviertel, den Strich in der Bremer Friesenstraße, offiziell zu verlegen. Ein Kraftakt für den Innensenator, denn er mußte damit faktisch eine illegale „Einrichtung“ legalisieren. Doch seitdem van Nispen die Verlegung angekündigt hat, gedeiht eine zweite Generation von Bürgerinitiativen in allen Bremer Stadtteilen.

Eine Kommission des Innensenators hatte eine Art Kriterienkatalog entwickelt, nach dem die neuen Standorte ausgewählt werden sollten. Anwohnerinteressen und die Sicherheit der Prostituierten standen an erster Stelle auf einer Liste von Voraussetzungen, die ein Standort erfüllen mußte. Über zehn Standorte wurden überprüft, drei Straßen im Bremer Hafen, teilweise im Wohngebiet, sowie das Weserstadion und das TÜV-Gelände kamen in die nähere Auswahl. Da platzte die SPD- Fraktion mit einem aufsehenerregenden Beschluß in die Drogendebatte. Der Strich solle ersatzlos zerschlagen werden, forderten die Genossen am 28. September. Die Grünen als dritte Ampelkraft stützten dagegen den FDP-Senator van Nispen.

Drogenpolitik: Zeitbombe auch für die Koalition

Seit diesem Tag ist das Thema Drogenpolitik nicht nur eine Zeitbombe für den sozialen Frieden im Bremer „Viertel“, sondern auch für die Koalition. Aus dem Haus des Innensenators kam inoffiziell die Unterstellung, daß sich die SPD mit ihrem Fraktionsbeschluß populistisch an die Wähler „heranschmeißen“ wolle. Ein „Sofortprogramm“ des Senats, nur einen Tag nach dem Fraktionsbeschluß der SPD verkündet, konnte die Wogen nicht mehr glätten. 100 Wohnungen bis zum Jahresende versprach Sozialsenatorin Gaertner, und van Nispen kündigte harte Maßnahmen gegen die offene Szene an. Die Uhr läuft ab in Bremen: Stichtag für eine Wende in der Drogenpolitik — in welche Richtung auch immer — ist der 1. November. Markus Daschner, Bremen